: „Wir sind nicht ganz Weltklasse“
Interview FRANK KETTERER
taz: Herr Skibbe, wie viele WM-Spiele haben Sie sich hier schon angesehen?
Michael Skibbe: Im Fernsehen schon sehr viele, etwa achtzig Prozent. Wir nutzen dazu nahezu jede freie Minute und richten sogar unseren Tagesplan danach aus.
Haben Sie dabei schon irgendwelche neuen Strömungen, vielleicht sogar Entwicklungen feststellen können, den Fußball betreffend?
Eine Tendenz, die ich sehr erfreulich finde, ist, dass nahezu alle Mannschaften versuchen, nach vorne zu spielen. Selbst in Partien, in denen wenige oder gar keine Tore gefallen sind, haben die Mannschaften offensiv gespielt und sich immer wieder Torchancen erarbeitet. Außerdem fällt auf, dass die so genannten Kleinen – etwa Südkorea oder Senegal – mittlerweile eine Konkurrenzfähigkeit erzielt haben, die immens hoch ist.
Warum ist das Spiel offensiver geworden?
Insbesondere aufgrund der läuferischen Fähigkeiten aller Mannschaften., was wiederum daher rührt, dass die meisten Spieler dieser WM irgendwo in England, Spanien, Italien, Frankreich oder der Bundesliga spielen. Damit gibt es eine Menge Spieler in den verschiedenen Mannschaften, die exakt das gleiche Training genießen wie jeder Franzose, Engländer oder Deutsche auch.
Welche Mannschaft hat Sie bisher am meisten beeindruckt?
Die Iren, schon aufgrund ihrer physischen Voraussetzungen und taktischen Ausrichtung. Sie waren sowohl gegen uns als auch gegen Kamerun in der zweiten Halbzeit das bessere Team und haben hier bisher wirklich ein sehr gutes Turnier gespielt. Außerdem haben mir die Schweden ganz gut gefallen, vor allem in der zweiten Halbzeit gegen die Engländer haben sie ganz klasse Fußball gespielt.
Und das mit den Iren sagen Sie nicht etwa nur, um die Leistung der deutschen Mannschaft schönzureden?
Natürlich nicht. Wir haben in der letzten Woche gegen Irland nicht gut gespielt, das ist keine Frage. Wir haben bei weitem nicht so agiert, wie wir uns das vorgenommen hatten. Andererseits hat da sicherlich auch die psycholgogische Komponente eine Rolle gespielt.
Das heißt?
Dass man man das, was man hat, auch festhalten möchte. Bei uns war das die 1:0-Führung. In so einer Situation wäre man ja auch schlecht beraten, wenn man weiter bedingungslos nach vorne spielen würde. Würde man dann nämlich ausgekontert, würden alle sagen: Hey, seid ihr noch ganz gescheit? Ihr führt 1:0, steht im Achtelfinale und lauft in der 85. Minute noch alle nach vorne und am Ende ins Messer.
Und deshalb hat sich die deutsche Mannschaft lieber vehement und bis zum Ausgleich in der 92. Minute in die Defensive drängen lassen?
Noch mal: Dass man in so einer Situation darauf bedacht ist, im Defensivbereich gut zu stehen und kein Tor zuzulassen, ist völlig normal. Leider hat das bei uns nicht geklappt, wobei man ganz klar sagen muss, dass die Iren sich das Unentschieden auch redlich verdient haben.
Die DFB-Elf hat sich hier einmal mehr als Mannschaft mit zwei Gesichtern gezeigt. Welches ist denn nun ihr wahres?
Die Wahrheit liegt in der Mitte. Wenn wir als Mannschaft gut bis nahezu perfekt funktionieren, haben wir die Möglichkeiten, jedem Gegner in der Welt Paroli zu bieten. Sobald wir aber nur fünf bis zehn Prozent weniger geben und der Gegner einen guten Tag hat, können wir auch gegen annähernd jede Mannschaft verlieren.
Was bedeutet das für das Spiel heute gegen Kamerun?
Dass wir mit 3:0 gewinnen, aber auch mit 0:2 verlieren können.
Dann ist die deutsche Mannschaft wohl so etwas wie eine Wundertüte?
Nein. Im Fußball geht es heutzutage nun mal ganz, ganz eng zu. Das hat nichts mit Wundertüte zu tun, sondern ist der Ausdruck internationaler Klasse.
Und dazu gehört, dass man in so verschiedene Extreme verfällt?
Das sind keine Extreme. Es wird uns ja sicherlich nicht passieren, dass wir gegen Kamerun mit 0:8 verlieren. Aber Kamerun ist Olympiasieger und zweimal in Folge Afrikameister geworden, da liegt eine Niederlage zunächst einmal durchaus im Bereich des Möglichen. Jedenfalls wäre es reichlich borniert, wenn wir sagen würden: Hey, gegen die können wir im Leben nicht verlieren.
Das hört sich aber nicht gut an.
Keine Sorge! Wir haben schon auch eigene Stärken, die wir dem entgegensetzen können.
Als da wären?
Ich denke, dass unsere mannschaftliche Geschlossenheit der Schlüssel zum Erfolg sein kann und wird. Wir müssen versuchen, das Spiel zu dominieren. Kamerun hat technisch und auch von der Schnelligkeit her sicherlich leichte Vorteile, aber auch in beiden Spielen deutlich mehr Torchancen zugelassen als wir. Das müssen wir nutzen.
Was können Sie als Trainer den Spielern auf den Weg in so ein Spiel noch mitgeben?
Ich kann ihnen noch einmal das Spielsystem des Gegners an die Hand geben und erklären, wie wir dagegen agieren möchten. Außerdem kann man als Trainer noch mal mit den Spielern sprechen. Manche benötigen vor so einem Spiel eher Streicheleinheiten. Andere, die sowieso schon eher stark sind, muss man hingegen eher ein bisschen runterholen, damit sie nicht übermotiviert ins Spiel gehen. Kurzum: Man muss eine Stimmung herstellen, dass die Spieler an ihre eigenen Stärken glauben und damit an den Sieg.
Das Spiel gegen Kamerun wird bereits mit dem WM-Relegationsspiel im November gegen die Ukraine verglichen. Deutschland siegte damals in Dortmund 4:1. Kann das wirklich weiterhelfen?
Es ist eine unserer größten Qualitäten, dass wir eine völlige Homogenität in der Mannschaft haben. Alles läuft ohne Komplikationen, ohne Reibungspunkte, aber absolut zielgerichtet ab. Genau daraus können wir unsere Kraft schöpfen für ein Spiel wie gegen Kamerun.
Und das Spiel gegen die Ukraine hat diesen Geist begründet?
Das war das Schlüsselerlebnis. Es hat uns gezeigt, wie sehr jeder, wenn wir uns mannschaftlich geschlossen präsentieren, aus dieser Mannschaft auch herausstechen und seine individuellen Qualitäten zeigen kann.
Sie selbst haben sich sehr optimistisch gezeigt, was das Weiterkommen der DFB-Elf angeht. Worauf stützen Sie sich dabei?
Auf diese Homogenität. Und auf die individuellen Fähigkeiten der Spieler, die ich hier trainiere. Das sind alles Männer, die mit ihren Vereinen international konkurrenzfähig sind. Und das gilt eben auch für die Nationalmannschaft. Ich habe ja noch nicht mit einem Wort gesagt, dass wir besser sind als andere, sondern nur, dass wir konkurrenzfähig sind. Wenn wir unsere Topleistung abrufen können, sind wir in der Lage, hier jeden zu schlagen.
Sie haben vor dem Turnier sogar behauptet, dass die deutsche Mannschaft ins Finale kommen könnte.
Ich habe gesagt, dass wir in jedem Spiel prinzipiell eine 50:50-Chance haben. Auch für mich sind die Favoriten Frankreich, Brasilien und Argentinien, die sind in ihrer Substanz besser als wir. Aber: Wir sind in allen Spielen konkurrenzfähig. Wir haben hier gegen jeden Gegner eine Chance. Wir können gewinnen – und wir können verlieren.
Was würde passieren, wenn Deutschland hier tatsächlich zum ersten Mal in seiner WM-Geschichte bereits nach der Vorrunde die Koffer packen müsste?
Da bin ich nun wirklich der falsche Gesprächspartner, weil ich mir über hypothetische Dinge keine Gedanken mache. Wenn wir ausscheiden sollten, fliegen wir am Tag danach nach Hause.
Sie wissen aber schon, dass da mehr vorfallen wird?
Natürlich. Aber ich kann mir doch nicht an einem Tag Gedanken machen, wie wir weiterkommen, und am nächsten, was passiert, wenn wir nicht weiterkommen. Wenn ich so wäre, wäre ich hier und in meinem Job fehl am Platz. Außerdem traue ich es den Jungs wirklich zu, dass sie weiterkommen. Wie gesagt: Wir sind vielleicht nicht ganz Weltklasse, aber wir sind konkurrenzfähig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen