vorlesungskritik
: Professor Schings über Romane der klassischen Moderne

Sympathie mit dem Tod

Gerade als im Kashima-Stadion von Ibaraki die erste Halbzeit von Deutschland gegen Irland endet, schließen sich die schweren Türen des fensterlosen Hörsaals inmitten der FU-Rostlaube. Der dramatische Kampf um die Seele Hans Castorps beginnt, des Helden aus Thomas Manns „Der Zauberberg“. Professor Hans-Jürgen Schings, in sportlicher Anzugkombi, kündigt schwungvoll wie immer die Taktik an: Er werde „kreuz und quer in diesem komplexen Roman herumspringen“.

Die trotz des Fußballspiels zahlreichen Zuhörer im steil ansteigenden Halbrund des Auditoriums haben bereits klobige Textausgaben gezückt, deren schwarzweiße Cover entfernt an Fußbälle erinnern. Thomas Mann, so Schings, habe verlauten lassen, man müsse den Roman mindestens zweimal lesen, um ihn wirklich zu verstehen. Genaues Hinschauen lohnt sich. Nach sieben Romanjahren verlässt Hans Castorp sein Bergsanatorium mit mehr Bildungserlebnissen, als vergleichsweise ein Regelzeitstudent nach vierzehn Semestern erhoffen darf. Das liegt insbesondere an der trotz deutlicher Burn-out-Syndrome beharrlichen Erziehungsarbeit des Jesuiten Naphta und des Freimaurers Settembrini. „Der Zauberberg“, so Schings, sei nicht allein ein Bildungsroman im besten Sinne“, ähnlich Goethes „Wilhelm Meister“. Erzählt werde auch die Initiation in okkultes, geheimbündlerisches Wissen. Zur Erhellung der Zuhörer referiert Schings in geübtem Vorlesungston die Essentials hermetischer Geheimlehren: Im Zentrum stehe die „Transsubstantiation“, also die Steigerung zu etwas höherem, die Erkenntnis des Übersinnlichen. Allerdings behauptet der Freimaurer Settembrini gegenüber Castorp, fern von allen irrationalistischen Bestrebungen nur an konkreter Politik interessiert zu sein. Das aber international. „Der Bund ist im Weltspiel“, fasst er die globalen Bestrebungen seines okkulten Vereins sportlich zusammen.

Auch das kurze Schlusskapitel entgeht der akribischen Lektüre nicht: Als der „Siebenschläfer“ Castorp im Jahr 1914 aus seinem Winterschlaf erwacht und in den Krieg zieht, hat er sich tatsächlich verändert. Doch was genau ist passiert? Irgendetwas Geniales muss doch an einem Romanhelden dran sein, dem ein Autor ein 700 Seiten starkes Werk widmet. Schings weiß, dass sich ein bestimmtes Leitmotiv durch den gesamten Text ziehe: Castorps gedankenlos-träumerische Körperhaltung: „seitwärts geneigter Kopf, andächtig schläfriger Mund“. Ob bei der Betrachtung eines Verstorbenen, beim Hören von Musik oder angesichts des eigenen Röntgenbildes: durch Motivreihung werde Castorps natürliche Sympathie mit dem Tode symbolisch aufgeladen. Die „Zeitverschüttung“ während des quasi endlosen Sanatoriumsaufenthalts ähnele überdies der klassischen mystischen Grunderfahrung des überlebten Todes: „rein in den Sarg, raus aus dem Sarg“. Nicht umsonst habe Schopenhauer den Sensenmann als „inspirierenden Genius der Philosophie“ bezeichnet.

Als Schings über das „Nunc stans“, das stehende Jetzt als Formel für die Ewigkeit, spricht, muss ich unwillkürlich an unsere Nationalelf denken. Die dürften ja schon seit einer Ewigkeit fertig sein, nur: Wie steht’s jetzt!? Die Zeitverschüttung im hermetisch verschlossenen Hörsaal hat beinahe romanhafte Ausmaße angenommen, die Streckfolter endloser Minuten spannt die Nerven.

In letzter Minute ertappe ich mich ausgerechnet in der leitmotivischen Pose: seitwärts geneigter Kopf, andächtig schläfriger Mund. Für diese mystische Grunderfahrung hätte Hans Castorp wahrscheinlich auch ein WM-Spiel verpasst.

ANSGAR WARNER