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Obere Wiese, untere Wiese

Die Woche der schönen Wahrheiten (3) Heute: Straßen, Buckel, Wälder

Die Straße ist alt. Sie kommt herunter von einem mittelhohen Bergrücken. Kaum ein Bergkamm. Es ist eher ein Buckel, eine Anhöhe womöglich, eine schmale, lange Anhöhe vielleicht, eine unaufdringliche, feine Anhöhe, die einen erst flachen und dann etwas steileren und zuletzt ganz steilen Berghang krönt und sich formt im Zusammenspiel mit dem westlichen Hang, und dort droben verläuft die alte Straße.

Sie zieht sich über diesen geschwungenen Rücken, und rechts, westlich, fällt der Hang hinab und verebbt dann in einem Tal, in dem die Bäume heller sind, hier oben, auf dem Hangrücken, wachsen Tannen. Linker Hand stehen die Tannen dicht, man sieht nicht viel, man sieht nichts außer den Reihen fast schwarzer Tannen, und plötzlich sprühen und zappeln einige Lichtfunken durch das Dickicht der Äste, die Äste selber beginnen sich zu wiegen, zu rudern, sie schwimmen sich frei, und durch die Lücken zwischen den nun lockerer gruppierten Bäumen taucht ein Blau auf, das zum Himmel gehört.

Die alte Straße macht einen Knick nach links. Büsche mischen sich hinein in die Lücken zwischen den Tannen, grau melierte und braune Steine liegen am Straßenrand, und ein Hang wird sichtbar, ein weiter, grüner Hang, der weit sich wohlig dehnt in eine hügelige Ebene, durch die sich krumme Hecken ziehen, behutsam läuft er in sie hinein.

Es ist eine ganz außerordentlich gewöhnliche Anhöhe. Die alte Straße nutzt die Möglichkeit, ihren östlichen Hang hinabzusteigen. Sie tut das mühelos. Sie sucht sich eine weite Bahn um eine Gruppe Buchen, schlängelt sich an Tannen vorbei, fließt durch Wiesen und Weiden und zuckelt hinab in eine Senke.

Ein graues Dach taucht auf, dann ein rotes. Telegrafenmasten spitzen in die Luft, Telegrafenleitungen spannen sich über weitere Dächer, eine Werbetafel für ein Möbelgeschäft steht am Straßenrand.

Am Ortseingang macht die Straße halt. Geradeaus führt sie zu einem anderen Ort, links knickt sie in diesen Ort hinein. Abwärts geht die Straße. An einem Klinkerhaus hängt eine Plastikfahne, auf der das rotweiße Emblem der Zigarettenmarke Bastos leuchtet. Gegenüber ist eine Bäckerei. Neben der Bäckerei ist ein Wohnhaus. Daneben ein graues Gebäude mit einem Frühstückscafé. Hinter den Häusern liegen Wiesen.

In der Mitte des Ortes zweigt rechter Hand ein Weg ab, eine Art Schottereinfahrt, deren Fahrspuren nach ein paar Metern ins Grün übergehen und dort verblassen, ja verschwinden. Ein weißer Wohnwagen steht dort, und ein Mann sitzt davor auf einem Gartenstuhl und raucht. Er steht kurz auf, nimmt ein paar Geldscheine entgegen, klemmt ein violettes Ticket unter den Scheibenwischer und grüßt.

Die Wiese glüht. Oben, über der Wiese, die sich hinter einer Hecke versteckt, wächst Tannenwald in den Himmel. Die Wiese, die untere, duftet. Sie schüttet ihr Grün aus und lässt sich von der Sonne einen goldenen Überzug schenken. Das Grün dehnt und streckt sich bis zum Weißdorn, zu den Haselnusssträuchern, zu den anderen Gesträuchen, denen man Namen gegeben hat, vor langer Zeit.

Über einen Buckel ruckelt man. Man kommt durch eine Lücke in der Hecke und steht auf der oberen Wiese. Die obere Wiese ist an ihrem oberen Ende eingefasst von einer Hecke, hinter der der Himmel scheint. Links schließt sich der Vorhang des Waldes. In Wellen verläuft die Wiese auf die dunkle, schattierte Tapete zu. Etwas grelles Licht fällt in einem breiten Streifen quer über die Wiese. Die Luft ist hell.

Eine Wolke steht am Himmel, in einem rosa Umriss. Der Himmel wölbt und legt sich über all das und schlummert scheinbar schon schön. Gegen Osten zittert kurz ein Leuchten oder tut sich etwas Ähnliches. Der Wald murrt nicht. Noch schnattert einmal vornächtlich ein Fink. Von der unteren Wiese zieht ein milder Rauch von Holzkohle und Grillwürstln herüber. Entfernt singt wer ein Lied. Auf der alten Straße, unten, unter der unteren Wiese, brummen einige Motoren. Honiggelb, und gar nicht anders, blitzt es in der oberen Hecke. Die untere Hecke, die obere Hecke der unteren Wiese, gibt keinen Mucks.

Sie sprießt, nach links und rechts, und anderweitig ist ein gutes, warmes Lachen zu hören.

JÜRGEN ROTH

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