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Bettmeister Deutschland

„Wann wachen denn die Franzosen endlich auf?“: Die Fußball-WM in Japan und Südkorea bringt selbst die allerhartnäckigsten Langschläfer aus ihrem Biorhythmus

Ich muss brav alles weggucken, sonst gibt’s keinen Nachttisch

Der Wecker klingelt und ich schalte den Fernseher ein – WM-Alltag eines Nachtarbeiters. Noch wie gerädert schlurfe ich in die Küche und werfe eine Bratwurst in die Pfanne. Bratwurst, die gehört einfach zum Fußball wie das Bier, das ich jetzt noch nicht runterbringe – ich hoffe, ich habe dafür wenigstens noch genügend Restalkohol im Blut.

Stattdessen gibt es grünen Tee. Nee. Grünen Nee – grüner Tee ist alle. Ein merkwürdiges Licht draußen – noch nie habe ich einen so hellen Mond gesehen, oder ist das etwa schon die Sonne? Wie zu jeder Jahreszeit hat auch zu jeder Tageszeit die Sonne ihr ganz spezielles Licht.

Morgenlicht ist zum Beispiel eigentlich ganz hübsch – ein bisschen hell vielleicht für den Anfang, aber so lerne ich das wenigstens mal kennen. Ebenso wie jene Vogellaute, die mir mein Lebensrhythmus bisher vorenthalten hat: Nie gehört, dieses halbseidene, komische Gezwitscher, irgendwie viel unseriöser als die vertrauten Drei-, Vier-Uhr-Vögel, die die feierliche Stille dieser edelsten aller Stunden mehr zu unterstreichen denn zu unterbrechen pflegen.

Des Weiteren kann ich natürlich den Rot- vom Grünkauz, die Bart- von der Schleiereule, den Uhu von der Nachtigall während unserer gemeinsamen Prime-Time im Schlaf unterscheiden. Allein, da schlafe ich nicht. Jetzt würde ich dagegen gerne schlafen, aber die Pflicht geht vor: Ich muss brav alles weggucken, sonst gibt’s keinen Nachttisch. Bratwurst mit dem magischen Dreieck aus vertrocknetem Toast und dazu ein Becher dampfenden Nees vor der Glotze.

„Wann wachen denn die Franzosen endlich auf“, bekomme ich noch mit, dass auch die Grande Nation müde ist – dann schlafe ich wieder ein. Als ich erneut erwache, rinnen zweiundzwanzig kleine Sandmännchen auf dem Bildschirm hin und her. Ich gähne fanatisch. „Ziege!!“, erschreckt mich plötzlich mörderisches Gebrüll aus dem Fernseher. Oder hallt das Geschrei aus dem Hof, von einem der Nachbarn, den die Frau im Schlaf aus dem Bett getreten oder mit ihren kleinen scharfen Schneidezähnchen kastriert hat?

Alfred E. Kerner fabuliert im Zweiten: Deutschland muss wieder groß … ich auch – Darm und Blase drücken, hoffentlich ist bald Halbzeit. In der zweiten Hälfte fallen überraschend Tore für Deutschland – den seinen gibt’s der Herr im Schlaf. In meinem übermüdeten Schädel mischt sich altes Fußballvokabular mit neuem: „Der Schlappwehr gelingt es inzwischen hervorragend, vor dem Schlafraum die Träume eng zu machen … grobes Faul … Morgenlatte … Nachschlafzeit …“ Schließlich aus! Aus! Aus! Der Wecker ist aus – Deutschland ist Bettmeister!

Draußen schießen irgendwelche Nachtwächter mit Raketen. Ich kann so unmöglich wieder einschlafen und ströme stattdessen jubelnd auf die Straße. Die Straße ist wie leergefickt. Nur ein paar dieser unseriösen Tagvögel lärmen herum: Wohl keine Arbeit, was? Sie säen nicht, sie ernten nicht und den Herrn lassen sie auch nicht in Ruhe schnarchen.

Ich fahre zum Vietnam-Shop runter, grünen Tee nachkaufen. Damit kriege ich morgen früh vielleicht wieder mehr vom Spiel mit. Ich bin der einzige Kunde und die Verkäuferinnen begrüßen mich mit dem Victory-Zeichen: „Sä gu, sä gu, Doitsse Lan, Doitsse Lan, sä gu!“

Eine nette Geste! Ich bedanke mich, indem ich frage, „Na Mädels – habt ihr in Vietnam auch ’ne Fußballmannschaft?“ Sie bejahen aufgeregt und ich muss gleich wieder an Japan denken, diese putzigen kleinen Wichte, die eine Flanke nach der anderen hoch in den Strafraum schlagen, wo sie dann so unermüdlich wie heldenhaft und vor allem vergeblich nach dem Ball hüpfen. Das kommt davon, wenn man nie schläft. Oder haben die da drüben etwa eine andere Zeit?

ULI HANNEMANN

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