: Demokratie mit Unterbrechungen
Bei der Loja Dschirga gerät der Zeitplan immer mehr durcheinander. Bis gestern Abend war noch nicht einmal die Wahl zum Staatspräsidenten erfolgt
aus Kabul SVEN HANSEN
Der greise Mann mit weißem Bart und Turban tritt ans Mikrofon und erhebt seine zittrige Stimme: „Wer Blut an den Händen hat, sollte nicht Kandidat werden“, sagt er unter Beifall. Damit erinnert er an die Regeln der großen Ratsversammlung, der Loja Dschirga. Denn ursprünglich hätten die afghanischen Warlords weder teilnehmen noch für ein Amt kandidieren dürfen. Doch gestern bewarb sich zunächst sogar der berüchtigte islamistische Kriegsfürst Abdul Rasul Sayyaf um das einflussreiche Amt des Vorsitzenden der Loja Dschirga.
„Hier sitzen zu viele Militärs“
Auf massiven Druck von Interimsregierungschef Hamid Karsai, des UN-Gesandten Lakdar Brahimi und des US-Gesandten Zalmay Khalilzad hatte die Loja-Dschirga-Kommission in der letzten Woche die Gouverneure und Militärkommandeure zur Versammlung zugelassen. Sie sind meist Warlords und wurden jetzt von Karsai als Delegierte in die Loja Dschirga berufen.
Der alte Mann am Mikrofon im großen, weißen Zelt der Loja Dschirga macht seinem Ärger Luft. Wer Gouverneur sei, hätte eigentlich seinen Posten niederlegen müssen, um hier sitzen zu können. „Hier sitzen zu viele Militärs“, sagt der Alte aus der südlichen Provinz Farah. „Ist das hier eine Loja Dschirga oder ein Militärcamp?“ Wieder bekommt er Beifall. Doch der Vorsitzende der Loja-Dschirga-Kommission, Ismail Qasemyar, der selbst als ein Favorit für den Vorsitz der Versammlung gilt, weist ihn zurecht. Er erinnert daran, dass die Kommission diese Frage in der vergangenen Woche geklärt hat und jetzt die Wahl des Präsidiums ansteht.
Redner und Rednerinnen mit Filzmützen, Turbanen und Kopftüchern, gekleidet in traditionelle Gewänder, Kleider oder in Businessanzüge, haben sich hinter den zwei Saalmikrofonen aufgestellt und machen Vorschläge für das Präsidium. War bei der Eröffnungssitzung am Dienstag strenge Regie geführt worden, ging es gestern bunt durcheinander. Statt die Vorschläge schriftlich einzureichen, forderte ein Mullah eine tägliche Koranlesung, andere, dass der Vorsitzende die Landessprachen Dari und Paschtu sprechen müsse oder dass gewählte Delegierte zwei Stimmen, ernannte aber nur eine haben sollten. Dazu werden zahlreiche Personalvorstellungen geäußert. Qasemyar lächelt jedes Mal geschmeichelt, wenn er vorgeschlagen wurde.
Gestern war die erste Gelegenheit für die Delegierten, sich zu äußern. Nach zwei Stunden und etlichen Afforderungen zur Einhaltung der Tagesordnung waren zunächst 15 Kandidaten für den Vorsitz der Loja Dschirga (darunter ist keine Frau), 37 für die zwei Stellvertreterposten (darunter eine Frau) und 50 als Sekretäre nominiert. Mittendrin stellte ein entnervter Redner fest: „Wenn die Versammlung so weitergeht, werden wir kein gutes Ergebnis haben.“ Später wurde in mühsamen Diskussionen dann die Zahl der Kandidaten verringert, weil einige zugunsten anderer verzichteten. Der Warlord Sayyaf, der die Mudschaheddin verteidigte und an ihren Einsatz gegen die sowjetischen Besatzer erinnerte, bezeichnete seine Kritiker als antiislamisch, verzichtete dann aber doch zugunsten Qasemyars auf eine Kandidatur. Bei seiner Rede hielten sich Protestrufe und Beifall die Waage.
Bei der Loja Dschirga, die Afghanistans neue Übergangsregierung bilden und die Weichen für die politische Zukunft des Landes stellen soll, vermischen sich Unerfahrenheit mit demokratischen Prozeduren und ein großzügiges Zeitverständnis mit massivem politischem Druck zu einem großem Gesamtchaos. Schon im Vorfeld wurden gefasste Beschlüsse immer wieder in Frage gestellt, bei entsprechendem Druck auch revidiert.
Bis gestern stand immer noch nicht die genaue Zahl der Delegierten und Abstimmungsberechtigten fest. Ursprünglich sollten es 1.501 sein, dann kamen die 50 Gouverneure und Kommandanten hinzu, während sich dutzende andere dank mächtiger Hintermänner Zugang verschafft hatten und darauf bestanden, teilzunehmen. Am Montagabend erklärte Versammlungsleiter Qasemyar dann, alle Delegierten würden überprüft und die Zahl der Stimmberechtigten werde auf 1.400 gesenkt. Alle anderen seien Gäste. Damit war schon die Verschiebung der Versammlung um einen Tag sicher.
Das Chaos erreichte am Dienstagabend einen vorläufigen Höhepunkt. Der bisherige Interimsregierungschef Karsai, der Staatspräsident werden will, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, er sei gewählt worden. Dabei hatte es weder eine Debatte noch eine Abstimmung gegeben, die nach den Regeln eigentlich in geheimer Wahl erfolgen muss. Doch ein Teil der Loja-Dschirga-Kommission und Karsai selbst hatten den Beifall während der Rede des Exkönigs, als dieser Karsai als neuen Regierungschef vorgeschlagen hatte, schlicht als Akklamation gewertet.
Gegenüber der Presse verteidigte der Kommissionsvorsitzende Qasemyar, der Professor für Verfassungsrecht ist und eigentlich die Einhaltung der beschlossenen Prozeduren durchsetzen müsste, das merkwürdie Vorgehen. Er räumte allerdings ein, sollten sich nicht alle einigen, könne über Karsais Wahl vielleicht noch einmal am folgenden Tag gesprochen werden. Das sei nun mal bei einer Loja Dschirga so.
„Wir Frauen sollten realistisch sein“
Qasemyar sah sich allerdings nicht in der Lage, die ihm immer wieder von Journalisten gestellte Frage, ob Karsai nun Präsident sei oder nicht, mit Ja oder Nein zu beantworten. Weitere Kandidaten seien ihm allerdings auch nicht bekannt, sagte er. Dabei hatte die Ärztin Massuda Dschalal, die nach der letzten Rede Karsais am Montag selbst noch etwas sagen wollte, auch kandidieren wollen. Doch sie wurde von Karsai abgewimmelt und auf später vertröstet, die Sitzung eine halbe Stunde vor dem geplanten Ende geschlossen.
Die 35-jährige Dschalal arbeitet beim Welternährungsprogramm und hat nach eigenen Angaben die für eine Kandidatur erforderlichen 150 Unterschriften von Delegierten für eine Kandidatur zusammen. Sie soll dem Islamisten und früheren Präsidenten Burhanuddin Rabbani nahe stehen, der am Montag zugunsten Karsais auf eine Kandidatur verzichtet hatte. Ihre Kandidatur ist unter Frauen umstritten. So sagte die Delegierte Gulbadan Habibi: „Ich glaube nicht, dass Afghanistan schon für eine Präsidentin bereit ist. Wir Frauen sollten realistisch sein.“
Die eigentlich für gestern geplante Wahl des Staatspräsidenten dürfte nun erst heute stattfinden. Am späten Nachmittag war die Sitzung erneut unterbrochen worden, ohne dass über den Vorsitz der Loja Dschirga entschieden war. In der zum Teil erregt geführten Debatte wurde einem Delegierten das Mikrofon entrissen, einem anderen mit Ausschluss für einen Tag gedroht. Mit den Worten „Reicht euch die Hände“ forderte der Turbanträger Mohammad Fayas Oruzgani seine Landsleute zur Einheit auf und zog seine eigene Kandidatur zurück. Bis zum Abend war noch nicht klar, ob das Präsidium überhaupt gewählt werden soll oder ob die Delegierten so lange diskutieren, bis sie einen Konsens finden, wie es bei der Loja Dschirga eigentlich Tradition ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen