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Virtuelle Realitäten

artgenda-Projekt „trustyourlocalartist“ präsentierte Video-Installation rund um den Hein-Köllisch-Platz

Das Konzept der Ostseekunst-Biennale artgenda geht auf: sie schickt die Kunst in die Stadtteile, die sonst eher mit phantasievollen Ablenkungen unterversorgt sind. Kunstfreunde kommen und vermischen sich mit den Anwohnern, die irritiert oder erfreut Stellung beziehen.

Der Hein-Köllisch-Platz in St. Pauli war – leider nur für drei Nächte – zur Projektionsfläche des Projektes „trustyourlocalartist“ geworden. Zwanzig Künstler verwandelten den großen öffentlichen Raum in ein multiples Freiluftkino. Aus zwanzig Fenstern von Geschäften und Privatwohnungen leuchteten Video-Installationen.

Einige Arbeiten nahmen Bezug zu strukturellen Aspekten des städtischen Raumes: Mit dem massiven Leerstand von Geschäften rund um den Hein-Köllisch-Platz beschäftigte sich etwa Thea Timm aus Kiel. Eine weiße Wohnung, in einem Zwischenzustand nach Aus- und vor Einzug der nächsten Mieter schwebend, atmete die Ruhe eines Idealzustandes. Ilona Walin aus Gothenburg beauftragte eine zehnte Klasse der Klosterschule in St. Georg, ihr Bild von Hamburg zu filmen. Parallel zum offiziellen Promotion-Film der Stadt abgespielt, konterkarierte es die Darstellung einseitiger Idylle. Die Bedeutung von Natur in der Stadt verbildlichte David Svensson aus Malmö mit seinem Foto einer blühenden Kastanie in einem Hinterhof, in deren Krone ein Mann schläft.

Witzige Verbindungen ergaben sich, wenn Projektionsort und das Thema des Videos kongruent wurden. So kläffte ein angeleinter Wachhund aus einer Tür heraus die Betrachter an. Und vom oberen Geschoss des Eckturms an der Silbersacktwiete stürzten in schnellen Videoschnitten Menschen von Brücken und Bergen in die Tiefe.

Hinter den Kulissen des Projektes steckte noch mehr als nur der schöne Video-Schein. Denn die Video-Beamer waren innerhalb der Räume aufgestellt, die Installation setzte die freundliche Aufnahme der Künstler durch die Anwohner voraus. Der interaktive Austausch erhob „trustyourlocalartist“ so auch zur sozialen Skulptur und verlieh dem Titel seinen Sinn. Im Schaufenster des türkischen Kulturvereins „Pamukkale“ lief das Video eines türkischen Jungen, der Fußball mit sich selbst spielte. Jacob Nielsen aus Aarhus hatte ihn als Vertreter einer Gruppe gefilmt, in der der Traum Fußballstar zu werden schon daran scheitert, dass kein Fußballplatz in der Nähe ist.

Eine wunderbare Koinzidenz ereignete sich vor dem Video von Alma Skersyte aus Vilnius. Unter blauem Himmel scheinen, aus der Untersicht gefilmt, zwei Jungen zu fliegen. Leicht und unbeschwert ist die Welt, Vögel zwitschern. Und dann erzählen Kolya und Sergei, dass sie auf der Straße leben und auch gern eine schöne Zukunft hätten: „Wenn ein Stück Hoffnung entsteht, folgen wir ihr.“ In demselben Moment kommen aus der nahegelegenen St. Pauli-Kirche die Schauspieler von Hajusom, dem Theater der minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlinge und verbinden Kunst mit Realität.

Lisa Monk

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