: Die nächtlichen Fenster zur Welt
Im Schutze der Dunkelheit kommen ARD und ZDF ihrem Bildungsauftrag nach. „Nightscreen“ zeigt „die besten Bildschirmschoner der Welt“, und „webcamnights.tv“ bietet meditative Ansichten über jeden Winkel der Erde
von TOBIAS MOORSTEDT
Okhubo Masahiko ist in letzter Zeit nicht besonders häufig zu Hause. Man kann ihm dabei zuschauen. Sein Schreibtisch ist leer, fast penibel sauber. Ordentlich liegt die Computermaus neben der Tastatur. Hier wurde in letzter Zeit nicht besonders viel gearbeitet. Vielleicht beschäftigt sich der Student ja gerade mit der Fußball-Weltmeisterschaft in Asien. Schließlich lebt der 24-Jährige im japanischen Kobe, wo das 45.000 Zuschauer fassende Wing-Stadion steht. Heute ist dort Achtelfinale: Brasilien gegen Russland. Für sein Lieblingsspielzeug, die Webcam, hat er deshalb nur wenig Zeit. Das Fenster zur Welt bleibt geschlossen.
Wo ist Okhubo Masahiko? Was bewegt ihn? Geht es ihm gut? Es ist das Rätsel Mensch, das man da mit der Internetkamera beobachten kann. Das ZDF hat aus diesem Stück Internetkultur ein schönes Fernsehformat entwickelt, die „webcamnights.tv“, und bringt seit einiger Zeit jede Nacht zwischen 4 und 5 Uhr Webcambilder: eine Station am Südpol, ein Büro in Hongkong, den Platz vor dem Kreml. Ähnlich wie die Aquarien, Kaminfeuer und Weltraumbilder, die manche Sender tief in der Nacht ausstrahlen, soll die Sendung die tote TV-Zeit in den frühen Morgenstunden überbrücken.
Solche „Pufferprogramme“ haben eine lange Tradition. Schon 1992 übertrug der Sender Freies Berlin mit einer im Cockpit installierten Kamera aufgenommene Bilder aus fahrenden S-Bahnen. Und für die Berliner – tagsüber wegen Verspätungen und verschmutzten Waggons eher schlecht gelaunt an den Bahnhöfen der Stadt – wurde die nächtliche Stadtrundfahrt schnell zum Kult. Der virtuelle Zug kam wenigstens pünktlich. Jede Nacht um drei.
Nur ein paar hunderttausend Menschen sitzen dann noch vor der Glotze. Aber auch das ist eine Zielgruppe. Für sie hat das ZDF noch eine Idee entwickelt und zeigt im Wechsel mit „webcamnights.tv“ die Sendung „Nightscreen“. Mit fliegenden Toastern und dem Windows-Zeichen kommt da der Büroalltag zu Besuch ins nächtliche Wohnzimmer. „Die besten Bildschirmschoner der Welt“ will man zeigen. Das ist mitunter schön anzuschauen, wie sich in Formen und Linien jeglicher Sinn auflöst. Das entspannt. Bei „webcamnights.tv“ kann man der Welt beim Sein zusehen. Es gibt keine Geschichte, keine Höhepunkte, nichts, was den normalen Ablauf der Dinge stört. Und oft ist da nur ein leerer Schreibtisch in einem nächtlichen Büro, durch das hastig eine Putzfrau huscht.
Kunst, kein Geschwafel
Mit dem nächtlichen Computerfernsehen will das ZDF aber auch „intermediale Brücken zwischen Fernsehen und Internet“ schlagen. Die Webcam-Bilder des Nachtprogramms sind deshalb auch auf der Homepage des Senders zu finden. Und auch die „besten Bildschirmschoner der Welt“ kann man sich dort runterladen. Crossmarketing- und Synergieeffekte nutzen, so nennt man das in der Branche.
Manche sehen mehr in diesem Konzept. „Das ist für mich wirklich Kunst. Kein Text und kein Geschwafel“, hat Harald Schmidt mal über die inhaltsarmen Pufferprogramme gesagt. In Zeiten, in denen das Leben immer schneller und die Bilder immer bunter werden, herrscht vor den Fernsehschirmen der Nation offenbar die Sehnsucht nach einer gewissen Langeweile. Statt endlosen Talkshow-Wiederholungen, stöhnenden Telefondirnen und amerikanischen Dauerwerbesendungen für Titanmesser finden die Menschen hier beinahe gar nichts. Und vielleicht deshalb zu sich selbst.
Als 1996 das pfeifende Testbild endgültig von den öffentlich-rechtlichen Bildschirmen verschwand, war das auch eine Chance. Ein Symbol des Wirtschaftswunder-Deutschland wurde da beerdigt. Ein Symbol, wie der VW-Käfer oder die D-Mark, das die Aufbaugeneration mit schrillem Signalton um ein Uhr morgens dorthin schickte, wo fleißige Deutsche in der Nacht hingehörten: ins Bett.
Der Eintritt der Privatsender hatte die Fernsehlandschaft verändert. Seitdem herrscht 24-Stunden-Dauersende-Pflicht. Vor allem die öffentlich-rechtlichen und die kleinen Sendeanstalten, die kein Film- und Sitcom-Archiv von Kirch’schem Ausmaße besitzen, hatten nun jede Menge Zeit in der Nacht. Georg Scheller hat diese Zeit genutzt. Der Redakteur des Bayerischen Rundfunks ist der Erfinder der mehrfach preisgekrönten BR-Spacenight.
Mittlerweile hat sich aus dem gescheiten Mix aus Nasa-Archivmaterial und leisen Ambiente-Beats eine tägliche Lehrstunde über Astrophysik und die moderne Raumfahrt entwickelt. Ein Beispiel: „Der BR-Experte Professor Harald Lesch erklärt die Unendlichkeit. „In der Nacht hat man viel Zeit“, sagt Georg Scheller, „da kann man sich auch mal mit komplizierteren Dingen beschäftigen.“
Sphärische Musik
Anders als im Fernsehalltag fesseln die Pufferprogramme ihre Zuschauer mit ruhigen Bildern. Da gibt es keine schnellen Schnitte und keine flimmernden Werbebanner. Bei sphärischer Musik und Bildern vom Blauen Planeten kommen die Mitglieder der Informationsgesellschaft endlich zur Ruhe. Scheller, der Fachmann fürs Ruhige, erzählt: „Oft schreiben mir Menschen, nach einer halben Stunde Spacenight könnten sie endlich einschlafen.“ Für Georg Scheller ist das ein Kompliment.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen