fernöstlicher diwan: Die Freude des Torschützen nach dem Treffer
Der Choleriker jubelt gerne nackt
In der griechische Säftelehre bestimmt das Verhältnis der Körpersäfte das Temperament des Menschen. Beim Melancholiker überwiegt die schwarze Galle, beim Sanguiniker das Blut, beim Choleriker die gelbe Galle und beim Phlegmatiker der Schleim. Diese vier Temperamente lassen sich auch auf die Erscheinungsformen des Torjubels übertragen.
Am weitesten verbreitet ist der sanguinische Torjubel: Zu ihm zählen alle bewegungsfrohen Aktionen: der Hechtsprung über die Werbebande, der wilde Slalomlauf, das Tanzen an der Seitenfahne. Beliebt bei dieser WM ist die kleine Bodenkür: Da gibt es natürlich Klose mit dem freien Überschlag ohne Bodenkontakt (Salto), und Robbie Keane (Irland) mit dem Radschlag und abschließendem Purzelbaum. Julius Aghahowa (Nigeria) hat mit einem siebenfachen Flic-Flac plus Salto in den Stand neue Maßstäbe ge-
CHRISTIANE RÖSINGERS WM
Mein Spieler: David Beckham wirkt weniger homophob als andere Spieler; hat schon mal einen Rock getragen und küsst seine Mitspieler nach Torerfolg
Meine Mannschaft: Senegal wegen des eindeutig kreativsten Torjubels
Mein Weltmeister: Vielleicht doch unsre Jungs?
setzt. Innovativ ist auch die von den Senegalesen nach dem Tor gegen Frankreich eingeführte Version: der Tanz um das T-Shirt. Ansonsten ist der sanguinische Torjubel recht einfallslos: Arme weit ausbreiten und übers Spielfeld laufen.
Melancholiker können sich nicht freuen, trauen dem Tor nicht, sehen auch in Erfolgen nur die Schwierigkeiten. Nach einem Tor verbergen sie ihr Gesicht in den Händen oder winken depressiv ab, am liebsten würden sie in den Boden versinken. Melancholischer Torjubel ist oft nach einem Eigentor zu beobachten. Aber auch Torjäger Klose wirkt so, als kenne er „das Glück, traurig zu sein“. Seine Geste des von der Handfläche gepusteten Kusses nach dem Tor gegen Saudi-Arabien sprechen für eine melancholische, vielleicht manisch-depressive Konstitution, für Salto und Trauer.
Bezeichnend für den Choleriker ist der Trikot-Striptease in allen Variationen. Neben dem einfachen Trikot-Ausziehen gibt es noch die Verbreitung von Unterhemd-Nachrichten und das Trikot-durch-die-Luft-Wirbeln von Rivaldo. Das Ausziehen ist bei dieser WM wieder erlaubt, wer je Janckers schwitzig unschönen Oberkörper gesehen hat, weiß, warum es aus ästhetischen Gründen verboten war. Für diese Form des Torjubels liefert uns die Biologie schöne Erklärungen. Die archaische Geste könnte auf primatenhaftes Imponiergehabe zurückgehen. Das Trikot ausziehen heißt den Panzer ablegen, die nackte stolzgeschwellte Brust sagt: Ich bin unverletzlich. Das über den Kopf gezogene T-Shirt ergänzt: Sogar blind und nackt bin ich noch der Sieger. Ferner gehören zum cholerischen Torjubel: brüllen, Faust recken, Fäuste ballen, schreiend weglaufen, wild grimassieren (Jancker), am Trikot reißen und auf die Nummer zeigen (Beckham gegen Argentinien wg. Traumaüberwindung).
Der Phlegmatiker schießt selten Tore, aber wenn es doch zufällig dazu kommt, läuft er weg und wartet, bis die Mitspieler sich zum einfachen oder doppelten Huckepack-Jubel auf ihn stemmen. Auch dem Körperberg geht oft die Flucht des sich dem Torjubel verweigernden Phlegmatikers voraus. Svensson (Schweden) führte eine neue Variante ein: Er ließ sich nach dem Tor faul rücklings über den Boden schlittern, bis sich die Mannschaft auf ihn stürzte. In der Standardsituation legt sich der phlegmatische Spieler auf den Rasen, die anderen legen sich kreuz und quer auf ihn und bilden so eine Wärmepyramide, wie es Tierbabys tun, wenn die Mutter das Nest verlässt. Bei den Italienern wird der Körperberg, von der zärtlichen Dreiergruppe bis zum großen Umarmungskreis, oft im Stehen ausgeführt.
Natürlich gibt es aber auch Mischformen. Der religiöse Torjubel offenbart sich durch das Bekreuzigen und Niederknien, manchmal werden kurze Dankes-Stoßgebete gesprochen. Alessandro del Piero brachte im Spiel gegen Mexiko eine neue Variante ein: zuerst den Zeigefinger küssen und ihn dann zum Himmel emporrecken. In unserer Beurteilung gilt der religiöse Torjubel als sanguinisch-phlegmatisch. Denn er ist einerseits Ausdruck von altkatholischer Lebensfreude, es kann sich aber auch eine fatalistische Lebenseinstellung dahinter verbergen: „Der da oben hat’s gerichtet. Der Mensch denkt, aber Gott lenkt.“
Der sanguinisch-cholerische Torjubel tritt auf, wenn die Spieler ihre Gefühle nicht zeigen und sie nur in kleinen, zärtlichen Gewalttätigkeiten kundtun können. Dazu zählt das spaßhafte Erwürgen des Torschützen, den Schützen zur Belohnung in den Schwitzkasten nehmen (dies widerfuhr Owen nach dem Tor gegen Dänemark). Die Japaner reißen sich gerne an den Köpfen.
CHRISTIANE RÖSINGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen