robin alexander über Schicksal: Die Seligkeit in Schwarz auf Weiß
Wozu arbeiten, kämpfen und lieben? Alles, was das Leben zu bieten hat, bietet es auch in gedruckter Form
Noch war ich weit davon entfernt, lesen zu können, da hätte mich ein Buch beinahe zu Tode gebracht. Als Säugling lag ich auf dem Ehebett meiner Eltern. Darüber war ein Brett angeschraubt, ein so genanntes Bücherboard. Von diesem fiel Dr. H. Jolly, „Das gesunde Kind“, Verlag Ehrenwirt, 1975, 621 Seiten, Hardcover – direkt auf meinen Kopf. „Eine tiefe Delle“ sei in meinem kleinen Schädel gewesen, berichten meine Eltern bis heute in seltener Übereinstimmung. Erst der Kinderarzt nahm ihnen die Panik: Babys haben sehr weiche Knochen. Folgeschäden blieben aus.
Dieser noch einmal glücklich ausgegangene Unfall deutet in die falsche Richtung. Ein Standardwerk über Kindererziehung kann aus der richtigen Fallhöhe ein Baby verletzen, sonst aber gibt es nichts Harmloseres als das gedruckte Wort. Absurd ist die Idee, aus Geschriebenem komme Gewalt. Hitler brauchte seine Stimme, Radiowellen und den Volksempfänger, um seinen Hass in deutsche Stuben zu bringen. Sein Buch „Mein Kampf“ nahm niemand ernst.
Worte, zumal die geschriebenen, können nicht töten. Ohne Resonanzboden verpuffen selbst die Schlagzeilen der Bild-Zeitung voll Saft, Kraft und Gewalt. Mag sein, dass am Anfang tatsächlich das Wort war – aber es reichte nicht aus. Sonst hätte die Kirche nicht noch den Weihrauch, die Orgel, das Fegefeuer und den Barock hinzuerfunden, um ihre Schäfchen beisammen zu halten.
Das Leben gründet nicht auf dem Wort, und der Konsum vieler Worte macht lebensuntüchtig. Als sich meine Familie den ersten Auslandsurlaub leisten konnte, entdeckte ich den Herrn der Ringe. Meine Eltern mussten mich zwingen, aus dem Schatten zu gehen und ab und an in den Pool zu springen. Ich war damals nicht wirklich in Andalusien, sondern auf dem Weg vom Auenland nach Mordor. Natürlich verpasst ein wirklich ausdauernder Leser etwas im Leben, Sonnenbrand zum Beispiel. Warum soll man sich tragisch verlieben? Das hat Werther schon getan. Und machen wir uns nichts vor: Es gibt auf dieser Welt kein Moskau, das dem von Michail Bulgakow gleicht. Im Gegensatz zu ausgelesenen Büchern gilt gelebtes Leben als ganz privater Besitz, den man mit niemandem teilen muss, Vergangenheit also als Nachweis von Individualität schlechthin. Muss man hingegen seine Lektüreerlebnisse nicht mit unzähligen anderen Lesern teilen? Ganz falsch: Eine Geliebte aus dem wirklichen Leben kann das, was sie einzigartig macht, morgen verschenken. Niemand aber sieht Anna Karenina, wie sie in meinem Kopf aussieht, egal wie oft ich das Buch verleihe.
Lektüre ist das Gegenteil von Aktion. Lesen ist Schutz für sich selbst und den Nächsten. Diese Erkenntnis sollte man nutzen: Für Bruttosozialprodukt und Frauenbefreiung ist es heute bekanntermaßen notwendig, dass sowohl Papa als auch Mama von früh bis spät arbeiten. Die teuren Gesamtschulen könnte man sich sparen und die Kinder besser bei Astrid Lindgren und Erich Kästner abgeben. Bücher bewahren einen vor echten Risiken. Ein Junge kann nicht so tapfer sein wie Winnetou. Niemand kann im wirklichen Leben die Drogenmengen von Patrick Bateman aus American Psycho schlucken oder die Depression eines Bruno aus den Elementarteilchen ertragen. Nicht lange jedenfalls.
Das Bewusstsein für den Unterschied zwischen Lektüre und Realität musste in der Geschichte erst erworben werden. Nicht zufällig brach nur eine Generation nach Erfindung des Buchdrucks der Dreißigjährige Krieg aus – man schlachtete sich ab mit den Bibelzitaten auf den Lippen, die jahrhundertelang der Lektüre lateinkundiger Mönche vorbehalten waren. Zeitgleich auf einem anderen Kontinent vernichteten spanische Konquistadoren Azteken und Inkas – im Gepäck die ersten Ritterromane der europäischen Neuzeit.
Lesend kann man keine tauglichen Erkenntnisse für das Leben gewinnen. In früheren, edleren Zeiten wünschten Leser sich moralisch zu erbauen oder gar Sittlichkeit zu erwerben. In der vulgären Realität ist diese Hoffnung der Erwartung konkreten Nutzwertes gewichen. Nichts da: Sittlichkeit gibt es so wenig wie profanen Nutzen. Der Nutzwert ist eben, Lebenszeit anzufüllen. Lektüre ist nicht Zweck. Lesen ist das bessere, weil konsequenzlose Leben – ist die gelebte Utopie. Welch ein Traum, die ganze Existenz als Leser zu verbringen! Aber wer schreibend sein Geld verdient, schenkt anderen dieses Glück.
Fragen zu Schicksale? kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen