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fernöstlicher diwanTor-Therapie gegen akute Affektinkontinenz

Fußball ist eben Emotion

Es fällt mir nicht leicht. Gewiss nicht. Aber es muss einmal darüber gesprochen werden. Und zwar hier an dieser Stelle. Die meisten verschweigen es ja, ich bin mir jedoch ganz sicher: Ich bin nicht die einzige, die heult, wenn Tore fallen. Studien belegen jedenfalls, dass Fußballspiele der häufigste Grund für Männertränen sind. Der flennenden Fußballzuschauer-Frau wird allerdings nicht mit Verständnis begegnet. Beim Spiel der Deutschen gegen Irland zum Beispiel schoss Klose das Führungstor und mir eine Träne nach der anderen in die Augen. Als kräftiges Blinzeln die verhängnisvollen Tropfen nicht davon abhalten konnte, den Abgang zu machen, wandte ich Gegenmittel Nummer zwei an: Ich tat mit spitzen Fingern so, als würde ich eine nichtvorhandene Kontaktlinse richten. Es war zwecklos, ich konnte meine Rührung nicht verbergen und war sofort das Ziel von Spott und Hohn. „Hihi, du weinst ja“, lachten die hartherzigen Restanwesenden. Und ich: „Ja, ich weiß auch nicht, was das ist. Früher hatte ich das nicht.“

DIE WM VON JUTTA HEESSMein Spieler: Immer noch David Beckham – allerdings nur, weil man ihn beim Spielen nicht reden hört Mein Team: Senegal – weil ich beim Sieg gegen Schweden die meisten Tränen investiert habe Mein Weltmeister: Brasilien – weil ich dann endlich das versprochene Nationaltrikot bekomme, aus dem der jetzige Besitzer rausgewachsen ist

Das stimmt. Es ist, als wäre plötzlich eine seltsame Krankheit ausgebrochen. Eine Erbkrankheit vermutlich. Denn meinen Eltern geht es genauso. Einst lachte ich wiederum meine Mutter aus, wenn sie bei der Wimbledon-Siegerehrung schluchzte und meinen Vater, der bei sämtlichen Weltrekorden von Carl Lewis seine Wimpern benetzte. Wahrscheinlich ist unsere Familie in Besitz eines sportiven Wein-Gens. Oder so.

Hilfe suchte ich bei einem befreundeten Psychiater. P. (aus Personen- und Patientenschutz Anfangsbuchstabe von der Redaktion geändert) versteht zwar nichts von Fußball und bringt schon mal die Sportarten durcheinander. Neulich behauptete er nämlich, Villeneuve hätte das 1:0 gegen Paraguay geschossen. In seinem Fach lässt er sich aber nichts vormachen. „Affektinkontinenz“ bescheinigte er mir kühl, als ich ihm von meinen nicht steuerbaren WM-Emo-Ausbrüchen berichtete. Was übersetzt soviel heißt wie: Ich kann meine Gefühle nicht halten. Dabei habe ich im Nichtfußballleben gar nicht so nah ums Wasser rumgebaut – höchstens bei ein bis zwei Kinofilmen heule ich mir schon mal ein Pfütze in die Mulde zwischen den Schlüsselbeinen. Aber das fällt ja im Dunklen nicht so auf. Die WM hingegen verfolgt man meistens in Gesellschaft und immer bei Tageslicht – und da ist es schon schwerer, sich trockenzulegen (siehe oben). P. empfahl mir, sofort eine Expositionstherapie durchzuführen: „Je mehr Tore du fallen siehst, umso weniger regt dich ein einziges auf.“

Also begab ich mich auf meine Couch und schaute mir alle Tore der WM mehrere Male auf Video an – und tatsächlich: Wiederholte Klose-Salti und Ji-Sung-Park-Treffer ließen mich auf einmal ungerührt. Außerdem kann ich jetzt sämtliche WM-Spielzüge, die zu Torerfolgen führten, auf einem Tipp-Kick-Feld nachstellen. Und mit verbundenen Augen Rivaldos Torkunststück gegen Belgien nachturnen – zumindest ohne Ball. Zwar habe ich während meiner Tor-Therapie gelernt, meine Gefühle, etwas besser zu beherrschen, aber ebenso, sie im Notfall zu akzeptieren. Ganz besonders hilfreich war hierbei die Großleinwanddauerschleife des Bonmots von Oliver Kahn: „Fußball, das ist eben Emotion. Fußball, das ist eben Emotion.“ Und da er dabei eigentlich so aussieht, als würde er sagen: „Fußball, das ist Krieg“ oder höchstens „Rührt euch!“, war das eine erfolgsorientierte Desensibilisierung. Meint P. jedenfalls.

So gewappnet, traute ich mir zu, das letzte Achtelfinale wieder in einer Fernsehgruppe anzuschauen. Bedingung war allerdings P.s Gegenwart, sicher ist sicher. Also gemeinsam zu Südkorea gegen Italien. Bei den beiden ersten Toren war ich noch eisern, blickte nur kurz zur Decke, um meine Augen zu lüften. Doch dann – es war aber auch gleich ein harter Test – das Golden Goal. Da schossen sie wieder mit, die Tränen. Und ARD-Kommentator Wilfried Mohren superlativierte gewagt: „Das war das emotionalste Spiel dieser Weltmeisterschaft.“ Wenn der wüsste! Mein persönlicher Wein-Vorrat jedenfalls hält sicher noch bis ins Endspiel – trotz Tor-Therapie. Und durch den Tränenvorhang konnte ich einen verwaschenen Blick auf P. werfen. Irgendwie hat er sich die Augen gerieben, ich bin mir sicher. JUTTA HEESS

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