Drama am Urbanhafen

Ein Enterich belästigt am helllichten Tag eine Ente – und keiner hilft: nicht die Schwäne, nicht die Tauben, nicht die Spatzen, und schon gar nicht der kurzhaarige blonde Herr mit der Bierdose am Mund. Die Geschichte eines ornithologischen Eklats

von ULI HANNEMANN

Ein Tag im Juni. Viele Menschen sitzen am Ufer des Landwehrkanals und genießen die Abendsonne. Einige küssen an andere Menschen hin oder in Bierdosen hinein. Die Stimmung ist friedlich. Das ändert sich, als sich im Wasser vor uns ein ornithologischer Eklat anbahnt. Ein Enterich belästigt eine Ente. Er schnattert böse und hackt mit dem Schnabel nach ihr. „Schlampe“, spürt man ihn förmlich sagen, „du miese Entenschlampe – na warte!“ Die Entenfrau quakt und flieht an Land.

Der Alte hinterher, quakt böse, hackt. Sie hechelt, flüchtet ins Wasser. Er hinterher. Sie schreit, türmt in die Luft. Er hinterher. Und weiter geht die wilde Jagd. Kennen die sich? Ist das ein Familienstreit, der uns nichts angeht? Die Leute am Ufer lachen. Die Ente ist außer sich vor Angst. Wer kann da lachen? Warum greift niemand ein? Selbst wenn das ein Familienstreit ist – was zu weit geht, geht zu weit.

Die Ente muss geschützt werden – sie muss ins Entenhaus, wo sie sicher vor ihm ist. Auch die Schwäne glotzen bloß. Dabei könnten gerade sie noch am ehesten helfen, weil sie laufen und fliegen und schwimmen können. Oder hat die Ente den Enterich vielleicht beklaut? Und die regeln das unter sich, ohne Entenpolizei, ohne Polente? Aber jetzt reicht’s: Er lässt und lässt sie nicht in Ruhe. Sie rettet sich direkt zwischen die Menschen, scheint zu quaken: „Hilft mir denn keiner?“, und die Leute lachen roh und keiner achtet auf die Not der kleinen Ente. Der Erpel bedrängt sie, und das am helllichten Tag! Vor über 200 seelen- und teilnahmslosen Menschen, die Schwäne füttern, Spatzen und andere gefiederte Triebtäter.

Ich stehe auf und rufe verzweifelt: „Warum, um Gottes willen, tut denn keiner was?“ Dann spreche ich, wie ich das im Deeskalationstraining im Fernsehen gesehen habe, die Umsitzenden direkt und gezielt an: „Sie hier, der kurzhaarige blonde Herr mit der Bierdose am Mund, und Sie, die Dame mit dem zotteligen Herrn am Mund – würden Sie bitte mal helfen?“ Niemand reagiert. Vielleicht auch, weil mir die Worte im Hals stecken geblieben sind. Ich bin nur kurz aufgestanden und habe mich dann wieder hingesetzt, stumm, traurig und ohne Hoffnung. Kurz hat der Enterich von der Ente abgelassen, doch das war nur die Ruhe vor dem Sturm: Jetzt kommen sie nämlich zu zweit – zwei männliche Enten und jagen das arme Mädchen bis zur Erschöpfung: „Quak, quaak, flatter, flatter, quietsch, schnatter!“

Wahrscheinlich ist eine Verfolgerente der Vater und die andere der Bruder oder Onkel oder versprochene Ehemann der Ente. Und sie will ihn nicht heiraten, denn sie hat sich in einen anderen verliebt, einen flatterhaften jungen Entenburschen, bettelarm und nichts als Flausen und Gitarrenspiel im Kopf. Wo ist er jetzt, der Feigling? Hat er sie überhaupt verdient? Oder haben ihn die andern schon um die Ecke gebracht? Der Rasen ist übersät mit Federn und Brotstückchen. Womöglich haben die Mörderenten den Liebhaber auf dem Rückweg vom Bäcker überrascht und totgequakt. Und jetzt ist die Ente dran. Eigentlich wollten sie sie steinigen, aber mit ihren Flügeln können sie die schweren Steine nicht aufheben, geschweige denn werfen. Also hetzen sie die unschuldige Ente zu Tode.

Am Ufer verschließen alle die Augen, nein, schlimmer noch, lachen und feuern an. Ein wenig fühle ich mich an „Accused“ mit Jodie Foster erinnert. Am Ende, wenn endlich, viel zu spät, die Polente kommt, will natürlich keiner was gesehen haben.

Ich kann mir die Szene schon vorstellen: „Guten Tag, mein Name ist Oberinspektor Derrick, Kripo Entenhausen, Mordkommission – wie gut kannten Sie die Verstorbene?“ – „Ich weiß von nichts.“ – „Wirklich nicht?“ – „Wirklich!“ – „Tja, da kann man nichts machen! Danke, Sie haben uns sehr geholfen – Harry, flieg schon mal den Schwan vor …“ – „Is’ gut, Stefan …“

Auf einmal lassen Vater und Onkel von der Ente ab und fliegen davon. Keiner weiß, warum – vielleicht fängt ja gleich Fernsehen an.