: Beginn einer neuen Zeitrechnung
Der Einzug der Türkei ins WM-Halbfinale beendet eine kollektive Depression. Endlich wird das Land weltweit wahrgenommen. Schröder auf dem EU-Gipfel? Egal. Viele hoffen auf ein Endspiel gegen Deutschland, um es denen endlich mal zu zeigen
aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH
„Ich hoffe, Deutschland fliegt im Halbfinale raus.“ Mit glänzenden Augen erzählt Ayse, die Fußball normalerweise für einen dummen Macho-Sport hält, von dieser Hoffnung. Aber warum will sie den Deutschen den Einzug ins Finale nicht gönnen? „Weil dann die Türkei Europa repräsentiert.“
Seit Samstagnachmittag, als Ilhan Mansiz in der 94 Minute das Golden Goal gegen den Senegal schoss, hat in der Türkei eine neue Zeitrechnung begonnen. Es erinnert ein wenig an Deutschland 1954, als die Fußballweltmeisterschaft der Nation zu dem Bewusstsein verhalf, „Wir sind wieder wer“, nur dass es in der Türkei darum geht, nicht wieder, sondern überhaupt erstmals „wer“ zu sein.
Endlich wird die Türkei weltweit wahrgenommen. Stolz präsentieren die Zeitungen Kommentare aus den großen europäischen und amerikanischen Medien, die den Türken bestätigen, herausragenden Fußball zu spielen und verdient im Halbfinale zu stehen. Überall finden sich anerkennende Worte – Worte, auf die man in Ankara und Istanbul schon lange gewartet hat.
Nicht nur die Boulevardpresse überschlägt sich mit Lobeshymnen auf ihre Helden und ihr Land, nicht nur die Busfahrer schmücken ihr Gefährt mit dem Landeswinkel, auch ansonsten des Nationalismus völlig unverdächtige Kreise sind von der Begeisterung mitgerissen. Aufmerksam wird registriert, dass selbst in den überwiegend kurdisch bewohnten Städten im Südosten des Landes Freudenfeste gefeiert werden. Auch in den Istanbuler Szene-Vierteln, dort wo das kritische Potenzial des Landes wohnt, flattern die Fähnchen mit dem Halbmond vom Balkon.
Tatsächlich kamen die Torschüsse der Nationalelf genau zum richtigen Zeitpunkt, um das Land aus einer tiefen mentalen Depression zu reißen. Seit über einem Jahr drückt eine schwere Wirtschaftskrise auf die Gemüter, und die Regierung wird durch einen schwer kranken Ministerpräsidenten repräsentiert, dessen Ausfälle selbst die bissigsten Satiriker verstummen lassen. „Ich danke unseren Kickern, dass sie mit ihren Toren die Türkei endlich aus der Wirtschaftskrise führen“, gab ein junger Arbeitsloser einem Fernsehteam ganz ernsthaft zur Antwort, das in Istanbul die Jubelstimmung einfangen wollte.
So absurd sich diese Erwartung auf den ersten Blick ausnimmt, die Hoffnung ist nicht ganz abwegig. Diverse Wirtschaftsbranchen, allen voran die Touristikunternehmen, erwarten durch die Fußball-PR erheblichen finanziellen Gewinn. Rund 500 Millionen Dollar Marketing-Kosten sei das Erreichen des Halbfinales wert, will ein Wirtschaftsinstitut bereits ermittelt haben, doch tatsächlich kann der Erfolg in Geld kaum gemessen werden.
Es ist dieses tiefe Gefühl der Befriedigung, das einem mit Minderwertigkeitskomplexen beladenen Land jetzt die Chance gibt, mit sich und der Welt realistischer umzugehen. Das zeigte sich bereits bei dem für die Türkei enttäuschenden Ergebnis des EU-Gipfels im spanischen Sevilla, wo fast zeitgleich mit dem Sieg auf dem Fußballplatz das wichtigste nationale Anliegen, endlich einen Termin für den Beginn von Beitrittsgesprächen genannt zu bekommen, wieder abschlägig beschieden wurde. Normalerweise hätte die Bemerkung von Bundeskanzlers Gerhard Schröder, er glaube nicht, dass der EU-Gipfel Ende des Jahres in Kopenhagen einen konkreten Zeitplan für die Türkei verabschieden werde, einen Sturm der Entrüstung und Enttäuschung ausgelöst.
Nach dem Tor von Ilhan Mansiz nichts von alledem. Der EU-Gipfel wurde auf die hinteren Seiten geschoben, und selbst dort waren die Gratulationen zum Sieg an Staatspräsident Sezer wichtiger als die Vertröstungen auf den Termin des Verhandlungsbeginns. Wo könnte man auch Schröder besser antworten, als in einem möglichen Finalspiel gegen Deutschland?
Denn anders als Ayse träumen viele, viele Türken genau von diesem Endspiel. Vierzig Jahre Geschichte der Underdogs in einem Land, das sie bis heute nicht als gleichwertige Bewohner anerkennt, warten auf die Gelegenheit, es denen endlich mal zu zeigen. Dabei wäre es mehr als eine Fußnote der Geschichte, wenn ausgerechnet Spieler, die in Deutschland geboren sind, den Deutschen die Weltmeisterschaft vermasseln würden, weil sie in dem Land, in dem sie groß wurden, keine Chance bekamen. Ilhan Mansiz, der Torschütze gegen Senegal, und Ümit Davala, der das 1:0 gegen Japan schoss, versauerten in der deutschen Amateurliga, bis sie sich von türkischen Clubs anwerben ließen. Und auch Yildiray Bastürk, der im Alltag bei Bayer in Leverkusen spielt, lässt auf die Frage nach seinem Wunschfinale kein Zögern erkennen: „Ich hoffe auf Türkei–Deutschland, damit danach wenigstens ein Leverkusener Weltmeister wird.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen