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Musik, Marken, Werte

Wie ein Arrangement von Händels Sarabande in einem Werbespot für Levi’s Jeans gelandet ist: Eine Spurensuche in der Staatsbibliothek Unter den Linden und anderswo

von CHRISTIANE TEWINKEL

Daphne hat geweint. Um Mitternacht stehen wir im Kino der Kulturbrauerei, und Daphne erzählt, wie ihr die Tränen gekommen sind. Bei einem Werbespot für Levi’s Engineered Jeans. „Weißt du vielleicht, was das für Musik ist?“, fragt sie. „Ja“, sage ich und denke daran, wie ich selbst den Spot zum ersten Mal gesehen habe. Ein blonder Junge, ein dunkelhaariges Mädchen. Sie springen durch Wände, schauen sich an und laufen am Ende zusammen ins Weltall. Dazu klingt ein Arrangement von Händels Sarabande aus der Suite d-moll.

Ich war ungefähr elf, als ich das Stück kennenlernte. Es ist nämlich so einfach, dass man es schon nach wenigen Stunden Klavierunterrichts spielen kann. Damals schien mir die Akkordfolge verwunschen, und ich spielte sie mit der Hingabe einer Elfjährigen, bis meine Klavierlehrerin sagte, so ginge das nicht, und aufstand. „Das musst du so spielen“, sagte sie und schritt langsam durchs Zimmer, „denk dir eine ganz feierliche Situation.“ Seitdem spiele ich das Stück, wenn mir nach Ernst und Strenge ist und ich einfache Farben möchte, eine ganz durchsichtige Struktur. Wer kann schon sagen, warum gerade dieses Stück so berühmt geworden ist? Vielleicht wegen der harmonischen Auflichtung kurz nach Beginn. Oder vielleicht wegen der etwas fremdartigen Betonung der Mitte des Taktes, die um 1705 sehr modisch gewesen ist.

Jonathan Glazer von der Londoner Werbeagentur BBH, der den Spot für Levi’s konzipiert hat, sagt, ihn fasziniere, dass die Musik im Grunde zum Film überhaupt nicht passe. Cathrin Robertson, Levi’s-Marketingleiterin für Deutschland, Schweiz und Österreich, erzählt, dass man es auch mit Vivaldi versucht hätte, aber darauf habe die Fokusgruppe längst nicht so stark reagiert wie auf Händel.

Warum das? Was ist hier los? Ich mache mich auf, um das Rätsel von Levi’s und Händel zu lösen. Ich gehe in die Bibliothek. Das heißt, ich möchte gehen, aber im Moment gibt es in der schönsten deutschen Musikbibliothek (die in der Staatsbibliothek Unter den Linden) kaum etwas zu erforschen. Der Musiklesesaal mit Lexika und Gesamtausgaben und der musikwissenschaftlichen Grundausstattung ist nämlich bis Anfang Juli geschlossen. Wegen „dringender Baumaßnahmen“. Es ist ein Skandal, und trotzdem war es nicht meine, sondern eines anderen Hand, die mit Bleistift „Skandal!!!“ auf den Aushang an der Lesesaaltüre geschrieben hat. Unter der Telefonnummer 1740 könne man die Abteilung trotzdem erreichen (keine Katalogauskunft).

Und Händel? Und Levi’s? Die Tür bleibt zu, die Händel-Gesamtausgabe nicht greifbar. Ich gehe in die Kartenabteilung, wohin der Lesesaal fürs Erste verlegt worden ist, sechs kleine Pulte und vorn ein Tisch für die Aufsicht. Ein amerikanischer Musikwissenschaftler mit weißen Händen wendet interessiert jahrhundertealte Notenblätter. Eine deutsche Kollegin steht eben auf, um zu sehen, was dem jungen Herrn in der letzten Reihe zur Ansicht gebracht worden ist. Manche Dinge sind noch immer zu bekommen, andere erst im Sommer wieder.

Zum Glück ist wenigstens die Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ mit in die Kartenabteilung gezogen. Ich erfahre, dass niemand wirklich weiß, woher das Wort „Sarabande“ überhaupt kommt. Um 1570 hat man in Mexiko ein Gedicht dieses Namens gesungen, für das sich der Autor vor der Inquisition verantworten musste. Berichte aus dem späten 16. und dem frühen 17. Jahrhundert über die Sarabande in Spanien zeichnen das Bild eines „Anstoß erregenden erotischen Tanzes“. So haben schon ganz andere Dinge angefangen. Im 17. Jahrhundert verbreitete sich die Sarabande von Frankreich aus in Europa; zuerst waren es schnelle Stücke, besonders in Italien, in Frankreich aber nahm man es dann gern langsamer, und Deutschland folgte diesem Vorbild genauso wie England. „In Abhandlungen des 18. Jh. wird die Sarabande übereinstimmend als langsam und gravitätisch beschrieben.“

Voilà, Herr Glazer hatte recht. Das passt nicht zum Durch-die-Wände-Springen. Fehlt nur noch die Frage nach Arrangement und inhaltlichen Änderungen. Denn für in der Wolle gefärbte Musikwissenschaftler wie jene, die sich gerade im Lesesaal-Provisorium verlustieren, weckt der Levi’s-Werbespot zwar Lust auf semiotische Extravaganzen, ist aber ansonsten kaum anzuhören. Das Stücklein ist durch den Komponisten John Altman neu arrangiert worden: Es fängt streichquartettig an, mit dunklen Tönen, und endet mit einem riesigen Orchesterklang. Ganz am Ende bleibt ein hohes Flirren, worin natürlich wieder ein altes Konzept aufgegriffen ist, nämlich das der Sphärenharmonie, aber ich möchte nicht überstrapazieren, sondern nur soviel sagen, dass es Musikwissenschaftler gibt, die zu klassischer Musik nicht entspannen können, weil sie entweder die fabelhafte Struktur eines Werkes zuviel Aufmerksamkeit kostet oder ein Arrangement seiner Ausgangskomposition total zuwiderläuft. Wie hier: Die Sarabande ist ein Stück für Cembalo, und dass ich es auf dem Klavier gespielt habe, war eigentlich auch schon fast falsch.

Und trotzdem hat der Levi’s-Spot große Wirkung entfacht. Vielleicht ist es gerade wegen der Kombination dieses besonderen Films mit einer Musik, die ausnahmsweise einmal klassischer Herkunft ist. Cathrin Robertson von Levi’s spricht von „disruption“, einem Durchbrechen des Erwartbaren, und erzählt, dass schon am ersten Tag nach Sendung der 60-Sekunden-Version Ende Februar zwei Dutzend Leute in der Levi’s-Zentrale anriefen. Am nächsten Tag waren es bereits vierzig Anrufe, am dritten sechzig. Schulleiter riefen an, Lehrer wollten eine Kassette für den Deutsch- und Gemeinschaftskundeunterricht. Universal und BMG signalisierten, dass sie im Falle x „Gewehr bei Fuß“ stünden – Single und Longplay werden allerdings bei Sony herauskommen.

Jüngere Tests, so Robertson, hätten gezeigt, dass in Deutschland mittlerweile 63 Prozent der Zielgruppe der 15- bis 25-Jährigen den Spot wahrgenommen haben und abrufen können. Der Kurzfilm schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen zeige er das Benefit des Produkts, die Bewegungsfreiheit, zum anderen verkörpere er die Werte der Marke selbst: Freiheit, Selbstbewusstsein, Aufbruch, Rebellion.

All das kann Levi’s nicht schaden. Auf dem Erfolg der 501 hatte man sich lange ausgeruht; vor zweieinhalb Jahren beschloss man, die Jugend zurückzugewinnen und über neue Konsumentengruppen nachzudenken, über Produkt- und Distributionspyramiden und die Preisgestaltung. So ist die „Engineered Jeans“ mit den verdrehten Seitennähten und dem besonders blauen Denim vor allem eine Reaktion darauf, dass Jugendliche nicht mehr das tragen wollten, „was Papa trägt“ (Robertson) – die 501. Und weil nicht attraktiv ist, was alle haben, wird nur ein Viertel der etwa 2.500 Geschäfte in Deutschland, die Levi’s verkaufen, die „Engineered Jeans“ überhaupt im Angebot haben.

Mit den unmittelbaren Reaktionen auf den europaweit ausgestrahlten Spot scheint bis dahin alles in Ordnung zu sein. Besonders die Mädchen der Test-Fokusgruppe haben sehr emotional reagiert. Auch Cathrin Robertson erzählt, ihr hätten bei der ersten Vorführung die Tränen in den Augen gestanden. Vielleicht sind Produkt und Spot allerdings nichts weiter als denimgewordener Ausdruck der Hoffnung, dass die europäische Jugend noch immer rebellisch sei und für ihre Träume bereit, alles zu sprengen und hinter sich zu lassen. Da kann sie in Berlin gleich anfangen – vielleicht handelt es sich bei „Odyssey“, dem 30- oder 60-Sekünder, um einen genialen Versuch, zum Wissenwollen aufzufordern: Warum denn nun und schließlich hat manche Musik so große Wirkung? Vielleicht reicht die Sehnsucht nach einer Erklärung sogar so weit, dass man sich noch einmal richtig über die Schließung des Musiklesesaals beschwert.

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