„An Männern getestet und Frauen verabreicht“

Inge von Bönninghausen, Vorsitzende des Deutschen Frauenrats, fordert für das Chronikerprogramm geschlechtsspezifische Leitlinien

taz: Frau von Bönninghausen, hat es Sie überrascht, dass Gesundheitsministerin Ulla Schmidt auch Brustkrebs zu den Chronikerprogrammen nehmen will?

Inge von Bönninghausen: In der Tat. Uns wundert das deshalb, weil Brustkrebs unserer Meinung keine Volkskrankheit ist wie Diabetes oder Asthma. Anders als bei den anderen für Disease Management Programme (DMP) vorgesehenen Krankheiten kann eine Patientin mit Brustkrebs nicht durch eigenes Zutun den Therapieerfolg beeinflussen.

Warum soll dann Brustkrebs dazu gehören? Politische Gründe?

Man kann derzeit bei allem, was geschieht, Wahlkampftaktik unterstellen. Vermutlich hat Schmidts Entscheidung mit der öffentlichen Debatte um die Brustkrebs-Früherkennung zu tun, und sie wollte die Aufmerksamkeit für das Thema nutzen.

Nun wird von Gynäkologischen Fachgesellschaften kritisiert, dass gerade die Brustkrebs-Früherkennung bei der Formulierung der Leitlinien für das Brustkrebs-DMP keine Rolle spielte.

Natürlich muss das Wissen um die Früherkennung in die DMPs Eingang finden. Wenn im kommenden Jahr die Massenuntersuchungen starten, wäre es unsinnig, die dann gewonnenen Erkenntnisse bei der Formulierung der DMPs nicht zu berücksichtigen.

Kommen frauenspezifische Aspekte in den anderen DMPs vor?

Wir zweifeln sehr daran, dass bei der Formulierung der Leitlinien die Relevanz von Geschlechtsunterschieden Eingang gefunden haben. Denn die Leitlinien sind „evidenzbasiert“, beziehen sich also auf den wissenschaftlichen Forschungsstand. Die Forschung bezieht aber bisher frauenspezifische Besonderheiten nicht mit ein: Medikamente werden an Männern getestet und dann Frauen verabreicht, obwohl der weibliche Stoffwechsel anders ist und Hormone eine wichtige Rolle spielen. Das heißt, dass die Leitlinien das männerzentrierte Muster einfach fortführen und zementieren.

Aber das ist ein Problem der Wissenschaft. Dafür können die DMPs doch nichts.

Aber die DMPs sollen sich an der Wissenschaft orientieren. Darüber hinaus lassen die DMPs noch zu viele andere Fragen offen. So setzen sie sehr stark auf die Mitarbeit der PatientInnen, zum Beispiel Gewichtskontrolle bei Diabetes. Steht in den Programmen, dass Frauen wahrscheinlich aus ganz anderen Gründen übergewichtig sind als Männer? Übergewicht von Frauen entsteht oft aus psychosomatischen Gründen, bei Männern oft durch zu viel Sitzen und Biertrinken. Das muss Folgen für die Therapie haben.

Was fordern Sie also?

Wir verlangen, dass die Leitlinien von vorne bis hinten geschlechtsspezifisch formuliert werden und auch die Schulungsmaßnahmen für PatientInnen getrennt stattfinden. Bei allen, die mit den Programmen und ihrer Umsetzung befasst sind, muss sich die Einsicht durchsetzen, dass Biologie und Lebenswelt von Frauen und Männern unterschiedlich sind und daher auch ihre Gesundheit ganz anders funktioniert.

Für derartige Ansätze könnten doch die DMPs gerade auch eine Chance bieten.

Könnten sie. Nur sehen wir dafür bislang keine Ansätze.INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN