: Bürgerwehr als Nothilfe
Staatlichkeit hat in vielen Teilen Afrikas keine gute Bedeutung. Tatsächlich dient ein Staatswesen oft nur den korrupten Eliten. Milizen können das Chaos lindern, das Ausplünderung und Kriminalität stiften
von DOMINIC JOHNSON
Vor etwa vier Jahren hatten die Händler von Aba genug. In der wichtigen Handelsstadt des Igbo-Volkes im Osten Nigerias war wieder eine Geschäftsfrau ermordet wurde, weil sie – wie alle reichen Markthändler dieses Landes – tausende von Dollar mit sich herumtrug.
Schon seit Jahren waren in den Handelsstädten Ostnigerias, in denen die Igbo-Geschäftsleute den Warenumschlag zwischen West- und Zentralafrika erledigen, kriminelle Banden zur bestimmenden Macht geworden. Sie legten Straßensperren, überfielen Grossisten, sorgten für ein Klima des Terrors und arbeiteten Hand in Hand mit der örtlichen Polizei, die wiederum ein Instrument von Nigerias herrschenden Militärs ist.
Nach dem Mord an der Handelsfrau sammelten sich die Händler von Aba zum Gegenschlag. Mit Macheten drangen sie in die Häuser der Räuber ein und hauten sie in Stücke. Dann heuerten sie Schläger an, um eine Rückkehr der Verbrecherbanden zu verhindern. Es war 1998, die Zeit des Wandels in Nigeria; Diktator Sani Abacha – der wohl brutalste und korrupteste Herrscher, den Afrika im letzten Jahrzehnt je erlitten hat – war gestorben, und sein Nachfolger leitete eine Demokratisierung ein. Bei den freien Wahlen von 1998 und 1999 sicherte sich die People’s Democratic Party des heutigen Präsidenten Olusegun Obasanjo die Unterstützung der Igbo-Geschäftswelt, indem sie zusagte, die Bildung von Milizen gegen das Verbrechertum zu unterstützen.
So wuchsen die Jugendmilizen der Bakassi Boys heran. Sie lynchten stadtbekannte Räuber auf offener Straße. Sie ließen sich nicht korrumpieren. Sie wurden fürstlich bezahlt. Und sie sorgten binnen kürzester Zeit dafür, dass die verrufenen Igbo-Handelsstädte den Ruf bekamen, zu den sichersten in ganz Nigeria zu gehören.
Streng genommen waren die Bakassi Boys illegal, ein Bruch des staatlichen Gewaltmonopols. Inzwischen hat Nigerias gewählte Regierung diese wie auch andere Milizen in anderen Landesteilen verboten. Aber die lokalen Bundesstaaten haben sich diesen Verboten stets zu widersetzen gewusst.
Wenn das Wesen eines Staates aber darin besteht, das Gewaltmonopol auszuüben, ein Territorium zu kontrollieren und unter der Bevölkerung Loyalität sowie die Einhaltung von Regeln zu erzwingen, so ist in weiten Teilen dieses Landes der Staat abgestorben.
Das gilt nicht nur für die Igbo-Städte Ostnigerias, sondern auch für jene Gegenden Nordnigerias, in denen entgegen der nigerianischen Verfassung das islamische Strafrecht angewandt wird. Sogar die Stadtautobahn von Nigerias größter Stadt Lagos wird quasi staatsfrei geschützt, wenn die Miliz des Oodua People’s Congress des Yoruba-Volkes anstelle der korrupten Polizei den Verkehr regelt und dafür keine Schmiergelder kassiert.
Der Staat in Nigeria beschränkt sich schon lange auf zwei Aktivitäten: die der Präsenz militärischer Gewalt und die des Ölexports. Nur wenige Nigerianer ziehen daraus Nutzen. Die Mehrheit sieht sich als Opfer dieser Aktivitäten und applaudiert jeder Initiative, sie aus ihrem Alltagsleben zu verbannen. Das gilt auch, wenn die neuen Milizen nicht weniger Gewalt und Willkür anwenden als die alten Autoritäten.
Für Entwicklungstheoretiker, die starke Staaten für ein Bollwerk gegen die Folgen der Globalisierung halten, kann dies ein Problem darstellen. Die intellektuelle Herausforderung geht jedoch über das Beispiel Nigeria hinaus. Sie besteht in der Anerkennung des Umstands, dass das Absterben des Staates die Konsequenz einer gewollten gesellschaftlichen Entwicklung sein kann.
Staatszerfall und Staatenlosigkeit in so genannten failed states, von Kongo über Somalia bis Afghanistan, wird international meist nur unter der Prämisse einer Bürgerkriegssituation diskutiert: Wenn nach langem inneren Konflikt keine Partei die Oberhand über das Staatsgebiet behält, zerfällt eben der Staat in die Machtbereiche der verschiedenen Kriegsparteien. Das Bürgerkriegsmodell definiert Staatszerfall als eine Abfolge von Gewaltakten und als Ergebnis des Scheiterns politischer Akteure, ihre Ziele durchzusetzen. Frieden wird im Umkehrschluss mit der Wiederherstellung von Staatlichkeit und staatlicher Ordnung gleichgesetzt.
Das Beispiel Nigeria zeigt demgegenüber, dass Staatszerfall ganz anders aussehen kann: als Akt aus der Gesellschaft heraus, der nicht der Verstetigung eines Kriegs- oder Gewaltzustands dient, sondern seiner Beendigung. Es ist kein Zufallsprodukt eines Zusammenbruchs sämtlicher Ordnungsstrukturen, sondern muss von einer Ordnungsstruktur beschlossen und organisiert werden.
An die Stelle des vertrauten autoritären Staates tritt dann die gesellschaftliche Eigeninitiative. Nur so kann Staatenlosigkeit funktionieren. Nicht Chaos, sondern Ordnung ist der Grund dafür, dass in manchen Ländern Staatszerfall zum Dauerzustand wird.
Somalia zum Beispiel verlor seinen Staat 1991, als Militärdiktator Siad Barre von einer Koalition rebellischer Clanmilizen aus der Hauptstadt Mogadischu verjagt wurde. Die neuen Herren waren nicht wie Barre zentralstaatlich organisiert, sondern nach dem dezentralen Clanprinzip, in dem Legitimität immer auf der untersten sichtbaren Ebene liegt und nicht auf der obersten. Sie waren daher nach ihrem Sieg strukturell überhaupt nicht in der Lage, einen neuen Zentralstaat zu errichten.
Im Laufe der Jahre sind diejenigen Clans am glücklichsten geworden, die dies als Tugend erkannten. Jene, die dachten, sie müssten jetzt ein Land namens Somalia regieren, haben nie zum Frieden gefunden.
In der Demokratischen Republik Kongo, vormals Zaire, ist ein ähnlicher Prozess im Gange. Die Machtkämpfe der verschiedenen Gruppen um die Oberherrschaft im kongolesischen Staate erscheinen unlösbar, weil mit der Macht im Staat die Verfügungshoheit über die Einnahmen aus dem Export der größten Vorkommen seltener Bodenschätze irgendwo auf der Welt verbunden ist.
Ein geordneter kongolesischer Staat könnte mit den Exporterlösen aus den Diamanten, dem Gold, dem Kobalt und dem Coltan Staatshaushalte und private Bankkonten füllen, bis sich die Balken der Schweizer Bankkellergewölbe biegen. Es gibt aber keinen geordneten kongolesischen Staat, und daher wird diese Aktivität in verschiedenen Landesteilen von verschiedenen Machthabern ausgeübt, die zwar alle die Einheit des Kongo beschwören, aber zugleich eine Zwangsvereinigung als Bedrohung empfinden.
Anders als die Nigerianer oder die Somalier leiden die Kongolesen unter ihrem Zustand extrem. Denn die Entitäten, die an die Stelle des Staates getreten sind, werden nicht von der Gesellschaft getragen, sondern verdanken ihre Existenz dem Eingreifen von Mächten aus anderen afrikanischen Ländern. Gegen sie entwickeln sich im Kongo lokale Milizen, deren Praxis denen Nigerias verblüffend ähnlich ist, von der geheimbündlerischen Organisation bis zur Angeberei mit angeblich gegen Gewehrkugeln unverwundbar machendem Zauberwasser.
Die so genannten Mayi-Mayi-Ordnungshüter des Kongo haben wie die ethnischen Milizen Nigerias ihren Ursprung in bewussten Gründungsakten von regionalen Chefs in den letzten Jahren der Mobutudiktatur. Damit aber endet die Parallele schon. Denn die kongolesischen Gruppen entstanden nicht im Kampf gegen ein allgemein als Übel empfundenes Verbrechertum, sondern zur Sicherung von Pfründen lokaler Potentaten und als Mittel ethnischer Vertreibungskriege. Dort, wo sie heute am stärksten sind, toben die erbittertsten Scharmützel des Kongo mit den brutalsten Kriegsverbrechen.
Selbst in Nigerias Igbo-Land ist die Grenze, die akzeptables Verhalten von Banditentum trennt, im Laufe der Jahre dünner geworden. Die Bakassi Boys können ihren Zweck auch verändern. So eignen sie sich im Vorlauf der nächsten Wahlen 2003 als Instrumente zur Einschüchterung politischer Gegner.
Die Bevölkerung fühlt sich allmählich entfremdet. Als vor einem Jahr in Aba ein prominenter Oppositioneller ihrer Lynchjustiz zum Opfer fiel, behaupteten die Bakassi Boys, nicht sie selbst seien verantwortlich, sonden „falsche“ Bakassi Boys, die irgendjemand zu ihrer Rufschädigung aufgestellt habe. Nun wissen die Leute nicht mehr, ob Bakassi Boys auf der Straße „echt“ oder „falsch“ sind. Ende 2001 kam es in Aba zu Kämpfen zwischen beiden Bürgerwehren mit Dutzenden von Toten.
Die Differenzierung zwischen „echten“ und „falschen“ Milizionären wird auch im Kongo unternommen, um zwischen verschiedenen Strömungen der Mayi-Mayi zu unterscheiden. Das ist kein Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts eines Chaos, sondern ein Versuch, das Ordnungsgefühl aufrechtzuerhalten, das dem ursprünglichen Staatszerfall zugrunde lag. Was dem gesellschaftlich gewollten Zweck dient, ist „echt“; was ihm schadet, ist „falsch“.
Diese Etiketten müssten ein wesentlicher Bezugspunkt für auswärtige Kräfte sein, die versuchen, sich im Dickicht der Milizen und Gruppen zurechtzufinden. Wer in failed states von außen sinnvoll eingreifen will, kommt um die Anstrengung nicht herum, in empirischer Arbeit die bestehenden gesellschaftlichen Quellen von Legitimität zu entdecken und sie als Ausgangsbasis für einen Prozess der politischen Befriedung und sozialen Gesundung zu begreifen.
Doch Regierungen reicher Nationen suchen in Krisenländern als Dialogpartner bevorzugt nicht die Strukturen, die gesellschaftliche Legimität besitzen, sondern ihr eigenes Ebenbild. So werden auswärtige Geber in Nigeria, wenn es um die Stärkung der inneren Sicherheit geht, immer bevorzugt in die kriminell unterwanderte und ineffektive Polizei investieren, weil sie Polizei heißt – und nicht in die Milizen, die die Arbeit der Polizei machen, aber für Weiße undurchsichtige Strukturen und unverständliche Namen haben.
In Somalia wird jeder, der sich in der Nähe des Präsidentenpalastes von Mogadischu niederlässt und sich Regierung nennt, international mit Vorschusslorbeeren behandelt, auch wenn seine Autorität an der nächsten Straßenecke endet – während richtige politische Ordnungen in entfernten Wüstengegenden ignoriert werden.
Sicherlich ist langfristig für eine vernünftige internationale Zusammenarbeit und für eine nachhaltige Entwicklung eines armen Landes das Entstehen staatlicher Strukturen, die Verantwortung nach innen und außen tragen, unumgänglich. Aber man kann nicht einfach nach eigenem Gutdünken den ihm sympathischsten Akteur zum staatlichen Partner ernennen, um sich die Arbeit zu erleichtern. Die Möglichkeiten für skrupellose Parteien in den betroffenen Ländern, diese Kurzsichtigkeit und intellektuelle Faulheit zu missbrauchen, sind immens – nach allem, was an Erfahrungen vorliegt.
In den Sechzigerjahren demonstrierte der junge Joseph Mobutu in dem Land, das er später in Zaire umbenennen sollte, was für ein brutaler Akt die Wiederherstellung von Staatlichkeit sein kann. Gefördert von den USA, Belgien, Frankreich und Großbritannien, machte sich Mobutu als Militärchef des Kongo an die Eroberung seines Landes, das damals zu zwei Dritteln unter Kontrolle von Anhängern des ermordeten Patrice Lumumba sowie diverser lokaler Milizen war.
Die Herstellung der Autorität des kongolesichen Staates damals erfolgte mit Massakern, Söldnereinsätzen, Vertreibungen, Autoritarismus. Was an freiheitsliebenden Kräften im Land vorhanden war, wurde zum Schweigen gebracht und – im Falle von Widerstand – ermordet. Als Mobutu sein Werk vollbracht hatte, galt der Kongo endlich als Staat – und die Welt applaudierte. Es folgten drei Jahrzehnte des Niedergangs, bis der Kongo eine Gesellschaft ohne Kraft und ohne Hoffnung war.
Die Zerrissenheit des heutigen Kongo ist die direkte Folge dieser brutalen Politik. Jetzt sitzt der junge Joseph Kabila in den Startlöchern, um das blutige Spektakel zu wiederholen. Und wieder wird die Welt applaudieren, weil damit Staatszerfall beendet werden soll.
DOMINIC JOHNSON, 35, taz-Afrikaredakteur, veröffentlichte zuletzt mit dem kongolesischen Pole-Institut und dem Evangelischen Entwicklungsdienst in Bonn die Studie „Coltanfieber“ über die gesellschaftlichchen Folgen des Bergbaus in der Demokratischen Republik Kongo
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