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Neunzig Minuten Berlin

Radtour von Kreuzberg über Mitte nach Charlottenburg: Für die Dauer eines Fußballspiels wird Berlin zu seiner eigenen Vorstadt. Die Urbanität kommt mit innigem Schmerz zurück, aber nichts ist verloren

von WALTRAUD SCHWAB

Jeden Augenblick kann es vorbei sein: der angehaltene Atem. Die Agonie. Das Warten. Die Ruhe. Vorbei die 90 Minuten Berlin, in denen es kaum Verkehr und keinen Unfall gibt, wie die Polizei später meldet. Ein Fußballspiel lang wird die geballte Konzentration einer Metropole in die hoch versicherten Beine von elf Fußballern gesteckt. Der Berliner mutiert zum Zuschauer. Einziges Ziel: Sich den Blick auf den Bildschirm nicht verstellen lassen. Wer dennoch die Stadt durchstreift, wird zum Voyeur einer eigenwilligen Leichtfüßigkeit.

Kreuzberg hat sich in Imbisse und Kneipen zurückgezogen. „Ohhhs“ sind das einzige, was bis auf die Straße dringt. Am Moritzplatz aber, unweit jener Quartiere, wo der Internationalismus als Balkonfehde zwischen der türkischen und der deutschen Flagge ausgetragen wird, ist eine Gruppe jugendlicher Fahnenschwenker noch unterwegs auf der Suche nach einem Bildschirm. „Deutschland“ rufen sie. Was sie – auch auf Nachfrage – nicht ahnen: Die Flagge, die sie in den Wind halten, ehrt Belgien.

Der Nieselregen hat die Titelblätter der Gazetten, die auf der Heinrich-Heine-Straße liegen, auf dem Asphalt festgeklebt. Schwarz-rot-gelbe Selbstvergewisserungsfetzen sind noch zu entziffern: „Berlin bebt“. An der Jannowitzbrücke hallt „Kaaaahn“ über die Spree.

Zur gleichen Zeit können die roten Ampeln ohne Unfallgefahr bis zum Alexanderplatz überquert werden. Als weitläufige Einsamkeit und „weites Feld“ macht der Platz den neunzig Minuten Vorstadt, die sich hier in ihrer ganzen Schönheit offenbaren, alle Ehre. „Angst“ hat ein Sprayer mit silberner Farbe auf das eingerüstete Haus gegenüber den S-Bahn-Bögen gesprayt.

„Unter den Linden“ erlebt die Feier der freien Zeit ihren Höhepunkt. Keine Autos, kein hektisches Treiben. Der Boulevard versinkt in Langsamkeit. Auf dem Pariser Platz allerdings gibt es eine atmosphärische Störung. Bei Tucher sitzen Jugendliche auf einer Tribune vor den Fenstern des Cafés und schauen auf einen Fernseher, der drinnen läuft. „Gerade hat Brasilien ein Tor geschossen“, erklärt eine junge Frau. Nebenan im „Raum der Stille“, der im rechten Flügel des Brandenburger Tores eingerichtet ist, ist das Zentrum eines Wandteppichs hell erleuchtet. Beim Versinken ins Licht ist das Außen ausgeblendet. Das Außen meldet: zwei:null.

Trotzdem herrscht unter den Bäumen im Tiergarten noch Teehausatmosphäre. Ganz leicht ist die Luft. Jeder ist sich selbst genug. Beim Lessingdenkmal, auf dessen Brust „King Faith“ gesprayt wurde, kommt die Anspannung, die über den Zuschauern am Potsdamer Platz liegt, bereits in den tiefen Tönen der Enttäuschung an.

Über den Lautsprecher einer Polizeiwanne, die hinter dem Sony-Center am Kemperplatz steht, wird das Spiel für die übertragen, die nicht mehr in die Halle gekommen sind. Umgeben von Rollrasen und Baucontainern sitzt ein Paar auf einem Haufen noch nicht verlegter Pflastersteine. Gebannt, andächtig, vom Ende geplagt.

In jenen Minuten, in denen das deutsche Herz entscheidet, dass alles verloren ist, wird die Stadt wieder laut. Was viel zu lange zurückgehalten wurde, quillt nach dem Schlusspfiff auf die Straße. Menschen, für 90 Minuten zusammengepfercht, mit Gesichtern, die einen Moment lang gezeichnet sind von einem innigen Schmerz. Kurz danach entdecken sie den Brauereilastwagen, von dem herunter Bier verschenkt wird. Einmal was umsonst. So wird der Berliner doch Sieger.

Am Ku’damm werden deutsche Fahnen geschwenkt. Mit Adler oder Ehrenkranz. Von Autos aus auch jene roten Flaggen mit Halbmond und ein paar grün-gelbe mit Stolz. Ein pickliger Junge mit schwarz-rot-gelb bemaltem Gesicht, dem die Niederlage noch immer die Sinne vernebelt, schreit: „It’s not yet over. The game must go on.“

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