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Patriotisches Schweigen

Ohne deutsche und US-amerikanische Tennisprofis geht Wimbledon in die entscheidende Phase, dafür aber noch mit der britischen Hoffnung Tim Henman – trotz einer Fehlentscheidung

aus Wimbledon DORIS HENKEL

Schamhaft enthielten sich Londons Blätter am Tag danach einer eindeutigen Wertung. Sie beließen es bei einer milden Umschreibung. Dass der gute Tim Henman eine spektakuläre Partie der dritten Runde gegen den fantastisch spielenden Routinier Wayne Ferreira auch deshalb gewonnen hatte (7:6, 3:6, 7:6, 6:1), weil er von einer Entscheidung des Schiedsrichters im Tiebreak des dritten Satzes profitierte, erwähnten sie zwar, aber dass es eine Fehlentscheidung war, behielten sie für sich. Es geht schließlich ums große Ganze, und da darf man nicht pingelig sein. Fest steht, dass Henman mit knapper Not einer Niederlage entkam, und dass die zweite Woche der All England Championships mit derselben unbritischen Aufregung um den besten Spieler des Landes beginnen wird, wie die erste zu Ende ging.

Es war im Tiebreak des dritten Satzes, Ferreira führte 4:1, als sein Ball hinter Henman direkt auf der Grundlinie landete. Henman sah den Ball im Aus und deutete das mit einer Handbewegung an, der Linienrichter gab den Ball gut, doch Schiedsrichter Jorge Diaz korrigierte die Entscheidung und gab Henman den Punkt. Ferreira nahm es staunend hin, weil er in diesem Moment dachte, vielleicht habe Diaz ja Recht, doch als er später im Fernsehen die Wiederholung sah, fühlte er sich betrogen und um den Erfolg seiner Arbeit gebracht. Er hatte Recht mit der Einschätzung, dass er das Spiel in drei Sätzen hätte gewinnen müssen, aber das ist die alte Geschichte: hätte, wäre, wenn.

Aber was los war in diesem Spiel, das kann man aus Ferreiras Kommentar schließen, so eine Atmosphäre habe er noch nie erlebt. „Obwohl ich verloren habe, war’s wunderbar. Ich habe jede Minute genossen.“ Es war ein lautes, buntes, mitreißendes Spektakel – ohne jeden Zweifel das tollste Ding in Woche eins. Einer Woche, die zu den kuriosesten in der langen Geschichte des Turniers gehört. Wenn nun das Achtelfinale beginnt, sind von 32 gesetzten Spielern noch sieben dabei, von den ersten 16 gar nur noch zwei, der bisher souverän siegende Lleyton Hewitt (Nummer 1) und eben Henman (4). Was die Tageszeitung The Guardian in ihrer Samstagausgabe unter einer Bilderleiste der in Wimbledon eher unbekannten Größen wie Nalbandian, Clément oder Malisse zur ketzerischen Frage veranlasste: Würden Sie sich die ganze Nacht anstellen, um diese Spieler zu sehen?

Wegen der Deutschen Kiefer und Schüttler muss keiner mehr Tickets erstehen. Beide sind ausgeschieden. Einen Tag, nachdem Kiefer gegen Mark Philippoussis verloren hatte, scheiterte der Kollege Schüttler gegen Feliciano Lopez und verschwand danach, so schnell es ging. Schüttler flog nicht in allerbester Stimmung nach Hause zurück, denn der Frust über die Niederlage (6:3, 6:7, 4:6, 4:6) gegen den jungen Spanier saß tief. „Das war ein bitteres Match“, meinte er, „viel schlimmer geht’s nicht. So eine Auslosung in der dritten Runde kriegt man nicht oft.“ Wohl wahr. Ganze vier Spiele auf Rasen hatte Lopez vor Beginn der Partie zu bieten, und die Bilanz aus diesem Jahr versprach auch keine Wunderdinge, aber dann stelllte sich heraus, dass der junge Mann, im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute, ein recht ordentlicher Rasenspieler ist – zu Schüttlers Überraschung.

Für das Männerturnier gilt bislang, dass jene Entwicklung, die schon beim ersten Grand-Slam-Turnier 2002 in Melbourne und danach auch in Paris zu beobachten war, sich fortsetzt: Wenn die Stars müde oder nicht ganz bei der Sache sind, dann sind sie leichte Beute für die hungrige Meute. Überraschend stark vertreten ist die Fraktion der Sandplatz-Spezialisten mit je einem Mann aus Argentinien, Ecuador, Brasilien und Spanien, von 14 Spielern aus den USA aber ist keiner mehr dabei, nachdem sich als letzter der Lucky Loser Jeff Morrison verabschiedet hat. So was haben die Amerikaner in Wimbledon seit 1922 nicht mehr erlebt, und da kann man selbst nach den strengen Maßstäben des All England Clubs von historischen Dimensionen sprechen.

Dennoch ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Tennismacht USA nicht leer ausgehen wird angesichts der Dominanz bei den Frauen mit den Nummern eins bis vier der Setzliste, Venus und Serena Williams, Jennifer Capriati und Monica Seles. Es gab bisher nur einen prominenten Ausfall, Kim Clijsters aus Belgien, doch deren Niederlage kam angesichts einer schon länger bekannten Schulterverletzung nicht überraschend.

Schwer zu sagen allerdings, wie gut die Williams-Schwestern knapp einen Monat nach dem gemeinsamen Finale in Paris in Form sind. Im Spiel gegen die 31 Jahre alte kantige Kanadierin Maureen Drake, Nummer 110 der Weltrangliste, verlor Venus am Samstag nicht nur einen Satz, sie wirkte auch verblüfft und überrascht. Eine Reaktion, die man bei ihr nicht alle Tage sieht.

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