: Der Thron des Besessenen
Wie wurde der schnöde Stuhl zum Sessel? Kleine Stilkunde über ein weich gepolstertes Möbelstück
von MICHAEL KASISKE
Ist es die Neigung der Rückenlehne, durch die sich ein Sessel vom Stuhl unterscheidet? Oder liegt es an einer nach hinten abschüssigen Sitzfläche, die den Sitzenden tief in die Polster rutschen lässt? Unstrittig ist, dass sich Sessel durch größere Bequemlichkeit vom Stuhl unterscheiden.
Doch Komfort lässt sich schwer messen. All die Attribute von Gemütlichkeit, Präsentation, Ästhetik und nicht zuletzt Angemessenheit in diesem Sitzmöbel zu vereinen, beschäftigt Tischler und Polsterer, Architekten und Designer seit dem Barock. Wie das erste Auto äußerlich einer Kutsche glich, standen auch die ersten Sessel im 17. Jahrhundert dem Stuhl sehr nahe. Und ebenso wie die Karosserien aufgrund der Anforderungen von höherer Geschwindigkeit verschiedene Stadien durchliefen, deren Bandbreite uns alltäglich auf der Straße vor Augen geführt wird, wurden Sesseln in den Epochen von Empire und Biedermeier bis in die Gegenwart vielerlei Gestaltwechseln unterzogen.
Heute werden wir – von musealen Ausnahmen abgesehen – vor allem mit der Palette der seit Anfang 1900 industriell hergestellten Stücke konfrontiert. Ob nun der inzwischen allgegenwärtige, chromblitzende „Barcelona Chair“ von Ludwig Mies van der Rohe oder der urige „Lounge Chair“ von Charles und Ray Eames – wie alle anonymen Sessel stehen diese Highlights des 20. Jahrhunderts für das Zurücksinken in weiche Polster.
Le Corbusier nannte denn auch seinen einzigen, mit Charlotte Perriand und Pierre Jeanneret entwickelten Sessel „Fauteuil Grand Comfort“. Der gewichtige Kubus, der heute fast ausschließlich in der Ausführung mit Chrom und schwarzem Leder zahlreiche Foyers von Banken besetzt, ist schon äußerlich das Sinnbild für bequemes Sitzen: In einem Gestell lagern fünf Kissen, die mit den Jahren der Benutzung träge seitlich rausquellen.
Trotz der weichen Polster thront der Sitzende in dem Corbusier’schen Sessel. Arm- und Rückenlehne befinden sich auf einer Höhe und verhindern ein allzu lässiges Lümmeln. Auch eine geringe Tiefe der Sitzfläche ermuntert zu aufrechtem Sitzen. Andere Sessel hingegen laden zum Mummeln ein, sie bieten durch ihre Form eine Art Schale, die dem Sitzenden neben Bequemlichkeit auch eine Art von Abschirmung bietet.
Hierin gleicht der Ruhesuchende einem Einsiedlerkrebs, der sich eine leere Muschel als Schutz sucht. Ähnlich funktioniert auch der geläufige Ohrensessel, bei dem die seitlichen Stützen an der hohen Rückenlehne den Kopf sogar während eines kleines Nickerchens abstützen. Diese Vielfalt der Sesselformen bleibt im Duden unberücksichtigt. Zum Begriff „Sessel“ gibt es dort folgende Auskunft: „Mit Rückenlehne, gewöhnlich auch mit Armlehnen versehenes, meist weich gepolstertes Sitzmöbel (für eine Person)“.
Der Nachsatz in Klammern erinnert daran, dass ein Sessel als Einsitzer unteilbar ist. Sind ein Sofa oder eine Sitzbank Möbel, die beim Gespräch etwas Verbindendes darstellen, so bleibt man im Sessel allein. Andererseits ist die Kompaktheit ein Vorteil, denn ein Sessel hat nahezu überall Platz. So könnte sein Standort zum Ruhepunkt in den eigenen vier Wänden werden, dessen Form den Bewohner geradezu charakterisiert. Obwohl nicht jeder Sesselbesitzer so weit gehen wird wie der Dichter Nicoles Born. In „Der Sessel des Besessenen“ heißt es: „Mein neuer Sessel / ist er nicht wie ich / wenn ich gebückt den Sessel / auf mich nehme / – mich?“
Auf welchen soll ich mich nun setzen?, lautet die übliche Frage. Bei mir kann sich der Besucher zwischen drei Sesseln entscheiden. Jeder von ihnen entspricht einem bestimmten Bedürfnis: Hoch zu sitzen, um mit jemanden beim Gespräch Auge in Auge zu sein oder um sich aufrecht zu halten zum konzentrierten Korrekturlesen, oder sich in eine Ecke zwischen Arm- und Rückenlehne zu lümmeln, um in einem Magazin zu schmökern.
So ist es nicht erstaunlich, dass die Frage nach einer Sesselempfehlung die Bandbreite der Benutzbarkeit ausschöpft. Im „Egg-Chair“ von Arne Jacobsen etwa kommen Form und Bestimmung genial überein. Der Sessel wurde nämlich für die Lobby des SAS-Royal-Hotels in Kopenhagen entworfen, wo er in großer Zahl inmitten eines belebten Raumes veritable Ruheinseln bildet.
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