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harald fricke über MärkteFachkundige Körperfantasien

In Kassel ist ein Loch im Bauch nicht bloß eine modische Grille, sondern eine existenzielle Entscheidung

Langsam kriecht die Straßenbahn die Wilhelmshöher Allee in Kassel hoch. Zeit genug, sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen. Besonders auffallend sind die Frauentorsos bei art piercing. Die Körperstümpfe sind aus grau glitzerndem Schieferimitat, sie tragen goldene Kettchen um den künstlichen Bauch gespannt. Die Figuren hängen gleichmäßig gereiht an unsichtbaren Fäden von der Decke, dazu strahlen feine Heliumlampen ein zart gelbliches Licht ab.

Man kann sich den dezent gemusterten Teppich vorstellen, der im Verkaufsraum liegt; man kann den Tresen mit dem sauber arrangierten Intimschmuck ahnen, dessen Materialqualitäten von in speziellen Seminaren geschulten Piercing-Koryphäen erklärt werden. Man hat plötzlich das Gefühl, dass in dieser blitzblank geleckten Atmosphäre jedes behutsam gebohrte Ohrloch und jedes kraftvolle Nippelpiercing tatsächlich zu einem erotischen Akt wird. So niveauvoll und fachkundig werden die Körperfantasien in der Provinz geregelt.

Ein paar Hügel später biegt die Straßenbahn in die Kasseler Fußgängerzone ein. Auch hier gibt es ein Tattoo & Piercing-Studio. Das Geschäft wirbt weithin sichtbar mit Fotos von zufriedenen KundInnen: Wer sich körperschmucktechnisch verschönern lassen möchte, findet in Kassel offenbar eine prima Auswahl, kompetente Kreativteams und sicher auch solide Preise. Hier wird noch Wert auf Qualität gelegt, hier wird lokal betäubt, wer Schmerzen lieber meidet; hier wird auch in erotischen Belangen absolut ungehemmt Distinktion geschaffen in der Provinz.

Dabei sind Piercings doch popkulturell gesehen längst out. Die zornigen Junge-Männer-Bands auf MTV tragen keine Ringe mehr in ihren Augenbrauen und Unterlippen, die Bauchnabel der Generation Britney sind wieder so gut wie bleifrei. Der Intimschmuck hatte seine besten Revoluzzer-Jahre zu Beginn der Neunziger, heute sind eher schmächtige bleiche Hänflinge en vogue, die sich vor zu viel Körperinszenierung gruseln. Für die neuen Schluffies sind Pieksspiele passé. Deshalb machen in Berlin-Kreuzberg auch schon jede Menge Tätowier- und Piercing-Läden dicht, satteln um, verkaufen Blumen statt Schmerzen.

Umgekehrt verhält es sich in der Provinz. Dort, wo der Clinch mit den Eltern noch ein zähes Ringen um Selbstverwirklichung bedeutet, ist ein Loch im Bauch oder ein Loch in der Lippe nicht bloß eine modische Grille, sondern eine existenzielle Entscheidung. Bei älteren Zeitgenossen gilt die späte Liebe zum Körperschmuck dagegen als verheißungsvolle Verlängerung der Jugend – eine Art „Trimm dich“ für die welke Hülle. Entsprechend haben sich Friseure und Fachgeschäfte auf beide Zielgruppen eingestellt: Den jungen Leuten soll mit der zahnarztpraxisähnlichen Einrichtung das Gefühl gegeben werden, dass sie selbst in der Grenzsituation, in dieser schmerzhaft vollzogenen Initiation zum vermeintlichen Außenseiterdasein gut betreut sind. Für ältere Semester bekommt das Ganze durch die Perfektion wiederum einen leicht frivolen Touch – aufgeräumt und gepflegt sieht es beim Piercingmeister aus, züchtig wie in einem SM-Studio.

Von den Ausschweifungen des Punk, den nach innen kommunizierten Codes der schwul-lesbischen Szene, von der ruppigen Attitüde bierbäuchiger Biker oder den simplen Suffneigungen der Prolls findet sich in solchen Etablissements natürlich keine Spur mehr. Die Avantgarde der Beringung hat ihre Schuldigkeit getan, jetzt kommt der gesellschaftliche Durchschnitt und seine Lust auf Körperschmuck.

Es ist vor allem dieser Wandel in der Kundschaft, der sich in den ultracleanen Geschäftsräumen spiegelt. Da verhält es sich in Kassel nicht anders als in Villingen-Schwenningen, in Riesa oder am Siemensdamm in Spandau. Was vor zehn Jahren noch eine Übertretung von Konventionen war – keine Angst vor dem Tabu! –, hat sich bis in die Mitte hinein ausdifferenziert. Dass die Selbstfetischisierung nun in der bürgerlichen Klasse angekommen ist, schafft aber auch neue Freiräume für das Anderssein. Wer weiß, vielleicht führt das Allover völlig entfesselter Körperfantasien ja am Ende zu einem Umdenken: Nicht jede Veredelung ist an hochgepitchte Äußerlichkeiten gebunden, manchmal reicht auch ein kluges Buch oder ein guter Gedanke. Nicht jedes abseitige Selbstverständnis wird mit Zeichen bedient, auch beim Post-Bodykult gilt mittlerweile: No Logo. Dann können die feinen Unterschiede unsichtbar bleiben.

Fragen zu Märkten?kolumne@taz.de

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