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Feldarbeit und täglich einen Schnaps

„Wenn wir erst Hotels bauen und in den Restaurants unsere Langlebigkeits-Gerichte servieren …“

aus Bapantun JUTTA LIETSCH

Huang Caishun sitzt auf ihrem Sarg und lächelt. Seit 40 Jahren steht der schmale, dunkle Kasten schon in ihrem Haus. Ihre Familie schenkte ihn ihr nach dem 60. Geburtstag, wie es in Bapantun Brauch ist. Jetzt ist das rohe Holz glatt poliert, der Deckel schon ein wenig mürbe, so oft hat sie dort gesessen. Auch Besucher lädt sie ein, auf dem „guan cai“ Platz zu nehmen. Das bringt Glück, wie jeder hier weiß, denn das Wort „Sarg“ erinnert im Chinesischen an den alten Wunsch: „Cheng guan fa cai ! – Mögest du Beamter werden und zu Reichtum kommen!“

Die Flecken Bapantun und Nonglaotun in der südwestchinesischen Provinz Guangxi sind in ganz China berühmt: Hier leben die Menschen länger als anderswo. 21 der 865 Bewohner sind über neunzig Jahre alt, vier sogar über hundert, und die älteste Frau ist schon 108. Legendär ist die Dorfbewohnerin, die vor sieben Jahren starb: Sie hatte das unglaubliche Alter von 142 Jahren erreicht, berichtet der Bürgermeister des Kreises.

Wie kann es sein, dass im armen Landkreis Bama lauter Methusalems wohnen und anderswo nicht? Mediziner und Soziologen erforschen seit Jahren das Phänomen und gründeten dafür ein „Institut zur Erforschung des hohen Alters in Bama“. Sie untersuchten auch die hundertjährige Huang Caishun und ihre Nachbarn, fragten nach Lebensgewohnheiten, analysierten die Ernährung: „Sie essen vor allem Maisgerichte, Bohnen, Süßkartoffeln, bittere Blattgemüse, Kamelienöl (Camellia Oleifera) und Cannabisöl-Extrakt, der reich an Vitamin E und verschiedenen Proteinen ist, die den Cholesterinspiegel niedrig halten“, fanden sie heraus.

Huang Caishun, die ihren Mann und sechs ihrer acht Kinder überlebt hat, hockt in ihrem schlichten schwarzen Bauernanzug und der dunklen Wollmütze auf dem Sarg und erzählt ihre Version, warum sie so alt geworden ist: „Immer auf dem Feld arbeiten, einfachen Maisbrei mit Wildkräutern essen und täglich einen Maisschnaps trinken.“ Das wichtigste aber sei ein „ruhiges Leben“, sagt die Bäuerin, deren Geburt im Familienbuch mit „Dezember 1901“ eingetragen ist.

„Vor der Befreiung“ durch die Kommunisten Mao Tse-tungs sei es ihr schlimm ergangen, als ihr Haus im Bürgerkrieg niedergebrannt wurde und die Soldaten der feindlichen Truppen die Dörfer verwüsteten, übersetzt ein Beamter der Gemeindebehörden die Worte der Greisin, die nur den Dialekt ihres Dorfes spricht.

Sie ist so klein, dass ihre Füße in den bestickten Stoffschuhen nur knapp die Holzdielen des dunklen Hauses berühren, das ihre Kinder vor Jahrzehnten gebaut haben. Es ist schlicht wie die meisten Häuser von Bapantun, die sich verschachtelt an den Hügel drängen. Durch große Löcher zwischen den unverputzten Lehmziegeln und groben Brettern zieht die kühle Bergluft.

Eine Neonröhre erhellt den Raum, an der Wand steht ein grob gezimmerter Webstuhl, auf dem die Frauen ihre Stoffe für Steppdecken und Laken weben. Ein paar Holzstühle nicht größer als Kinderschemel, das Bettgestell mit wattierter Baumwolldecke, Emailleschüsseln, eine von Reisigholz befeuerte Maisschnaps-Destille und als moderner Luxus ein Gaskocher – das ist der ganze Besitz der alten Frau.

Auch der 102-jährige Huang Buxin am anderen Ende des Dorfes schwört auf das gute Wasser aus dem Fluss und den ungesalzenen Maisbrei. Wie die meisten Dorfbewohner hat er den Familiennamen Huang und gehört zur ethnischen Minderheit der Zhuang, deren Kultur und Sprache sich heute nur noch wenig von der han-chinesischen Mehrheit unterscheidet. An der Wand hängen Fotos, die Huang Buxin als kräftigen Hundertjährigen mit schwerem Reisigbündel auf der Schulter zeigen, Bilder von Kindern und Enkeln, rot-goldene Bauernkalligrafien und bunte Kalenderblätter mit dem Tiananmen-Tor in der chinesischen Hauptstadt Peking.

Während der Greis von den Segnungen des einfachen Lebens auf dem Lande spricht, hört sein 26-jähriger Enkel Huang freundlich zu. Nicht nur das gute Klima, das gesunde Kamelienöl und der Maisbrei, sondern auch „der große Respekt der Jugend vor dem Alter“ seien das Elixier, das die Leute hier am Leben erhalte, sagt ein Professor des Instituts zur Erforschung des hohen Alters.

Der 102-jährige Huang Buxin schwört auf das gute Wasser aus dem Fluss und den ungesalzenen Maisbrei

Doch der Alltag des jungen Huang hat nur noch wenig mit dem Leben zu tun, von dem der Großvater erzählt. Er ist schon vor Jahren aus der Armut des Dorfes geflüchtet, das bis zum Jahr 1999 als „Elendsgebiet“ galt, wie die Regierung die rückständigsten Regionen des Landes offiziell bezeichnet. Er arbeitet in einer Schuhfabrik in Kanton und schickt regelmäßig das Geld für die Familie nach Hause. Seine Frau kümmert sich daheim um das Baby und den alten Huang Buxin.

Von den winzigen Feldern, vom Mais und den Taro-Wurzeln, den Bananen und Papaya-Früchten und den Fischen aus dem Panyang-Fluss am Dorfesrand können die Familien sich gerade selbst ernähren. Das Geld für Steuern, Medikamente und den Schulbesuch der Kinder ist für die meisten Bewohner nur schwer zu erwirtschaften. Rund 1.700 Yuan im Jahr (knapp 240 Euro) beträgt das durchschnittliche Haushaltseinkommen pro Jahr in Bama. Darin sind die Überweisungen von den Familienangehörigen in der Stadt schon eingerechnet, berichtet die Parteisekretärin der Gemeinde, Lan Meifeng.

Nun sind die Funktionäre auf die Idee gekommen, mit dem Wunder des hohen Alters Geld zu verdienen. Eine Fabrik verarbeitet inzwischen „Bama-Langlebigkeits-Kamelienöl“ für den Verkauf. „Wir überlegen, wie wir die Langlebigkeits-Dörfer zur Tourismusattraktion machen“, sagt Lan. Außer den Hundertjährigen von Bama hat die drei Autostunden von der Provinzhauptstadt Nanning entfernte Region frische Luft, klares Wasser und malerische Karstberge zu bieten, die ebenso schön sind wie die von Guilin im Norden der Provinz, das jedes Jahr Millionen Touristen aus aller Welt anzieht. „Wenn wir erst eine Schnellstraße bauen, Hotels errichten und in den Restaurants unsere speziellen Langlebigkeits-Gerichte servieren“, malt sich Lan Gaohan, der 45-jährige Bürgermeister von Bama, die Zukunft seines Ortes aus, „dann werden die Menschen von nah und fern hierher strömen.“

Das hört Huang Buxin nicht mehr. „Er wird so schnell müde in letzter Zeit“, flüstert die Parteisekretärin. „Ich hoffe, das alles wird nicht zu anstrengend für unsere alten Leute.“

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