piwik no script img

Ein Stich mitten durchs Herz des Altstadtviertels von Valencia

Für einen Boulevard direkt zum Meer soll El Cabanyal, das Viertel um den alten Fischmarkt von Valencia, in zwei Hälften zerschnitten werden. So wollen es die Stadtplaner

Die Alte erinnert sich gerne an damals, als die Fischer noch jeden Tag hinausfuhren aufs Mittelmeer: „Alle halfen mit, auch die Kinder. Oft fingen wir um drei Uhr morgens an zu arbeiten, danach gingen wir zur Schule“, erzählt „Señora Lola“, wie die 82-Jährige von ihren Nachbarn im Stadtteil El Cabanyal in Valencia genannt wird. Sieben Jahre war sie alt, als sie anfing in der „Lonja“, der Fischbörse unten am Wasser, auszuhelfen.

Zweistöckige Wohnungen säumen die lang gezogene, 1909 errichtete Halle auf beiden Seiten. Eine ziegelgedeckte Dachkonstruktion aus Holz und Stahl überspannt das Ganze. „Hier wohnten die Familien der Bootseigner“, erzählt Lola. „In der Mitte waren Waschbecken und Tische aus Stein. Dort reinigten die Frauen den Fisch.“ Die Käufer nahmen die Körbe mit der Ware in Empfang. Die kleine Lola und ihre Altersgenossen liefen hinterher und brachten die leeren Körbe zurück.

Die Fischer von El Cabanyal leben nur noch in der Erinnerung. Die großen Fangflotten ein paar Kilometer weiter im Hafen von Valencia haben die kleinen Boote abgelöst. „Jetzt soll auch noch die Fischhalle verschwinden“, schimpft Lola. Ein großer Kreisverkehr soll hier entstehen; so sieht es der Plan der konservativen Bürgermeisterin Rita Barbera und ihres Baubeauftragten Miguel Domínguez vor. Sie wollen die vierspurige Avenida Blasco Ibáñez, die aus der Innenstadt kommt, bis ans Meer verlängern und dort an die Uferstraße anschließen. Eine 148 Meter breite Schneise muss dazu durch den Stadtteil El Cabanyal geschlagen werden. Über mehreren hundert Häusern mit insgesamt 1.650 Wohnungen schwebt drohend die Abrissbirne.

Einst standen hier Baracken aus Lehm und Stroh. Als viele der einfachen Behausungen 1796 Opfer der Flammen wurden, bauten die Bewohner richtige Häuser und kopierten dabei, was sie im vier Kilometer entfernten Valencia sehen konnten. Jugendstil, Art déco, Modernismus, Rationalismus – die Fischer von Cabanyal reinterpretierten die Architektur ihrer Zeit. Es entstand ein Flickenteppich aus Ziegelstein und Pastellfarben.

Knapp die Hälfte der 774 als erhaltenswert eingestuften Gebäude im Cabanyal sollen abgerissen werden. Darunter befindet sich auch das Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Stadtteiltheater. „Was als erhaltenswert katalogisiert wurde, kann auch wieder dekatalogisiert werden“, verteidigt Städteplaner Miguel Domínguez seine Politik. Schließlich sei er der Autor der Denkmalschutzliste. Der konservative Politiker residiert im obersten Stockwerk des Städtebauamts, eines klotzigen Gebäudes im neuen Teil der Stadt. Umgeben von Plänen des aktuellen und des künftigen Valencias schwärmt er von seinem „Jahrhundertprojekt“.

Bereits 1888 entstanden die ersten Ideen eines „neuen Weges von Valencia ans Meer“. Die Avenida Blasco Ibáñez wuchs Jahrzehnt um Jahrzehnt. Doch das Wasser erreichte sie nie. El Cabanyal liegt am Ende des von backsteinroten Wohnblocks aus den Siebziger- und Achtzigerjahren gesäumten Boulevards. Quer wie ein Riegel.

„Kaputtsanierung“ – diesen Vorwurf weist Domínguez weit von sich: „Es handelt sich vielmehr um einen Plan zur Regeneration von El Cabanyal“, erklärt der Städteplaner. Die Öffnung des Quartiers sei wichtig, um mit sozialen Problemen wie dem Drogenhandel fertig zu werden. „Ein Rückgrat des Stadtteils“ soll die Avenida werden, „so wie die großen Achsen in Madrid und Barcelona“, gerät Dominguez ins Schwärmen. Dass sich die Dealer genau dort niedergelassen haben, wo wegen des Straßenbauprojekts seit Jahren nicht mehr renoviert und investiert werden darf, darüber schweigt er sich ebenso aus wie über den Vorwurf der Anwohner, die Polizei schaue gezielt weg, um die Protestierenden zu zermürben. Stattdessen verweist er stolz auf die Studie eines internationalen Immobilien-Consulting-Unternehmens. Valencia wird als interessante, aufsteigende Stadt eingestuft und als Alternative zu Barcelona und Madrid gepriesen. Doch damit nicht genug: Domínguez und seiner Mannschaft ist es tatsächlich gelungen, die vom Verfall bedrohte Altstadt wiederzubeleben. Billige Kredite für Wohnungskäufe haben junge Menschen angezogen. Wo vor wenigen Jahren die Bevölkerung scharenweise davonlief, suchen heute viele wieder eine Wohnung.

Ausgerechnet jetzt, wo er sein „Jahrhundertwerk“ in Angriff nimmt, soll all das nichts mehr wert sein, und das wegen „ein paar Protestierern“. „Die sich wie im Cabanyal quer legen, sind immer die Gleichen, Leute mit linker Einstellung“, versucht Domínguez die großen Demonstrationen, Hungerstreiks, Ausstellungen und Künstlerperformances zur „Rettung des Cabanyal“ herunterzuspielen.

Einer derer, die der Städteplaner beschuldigt, „gegen alles Neue zu sein“, ist Vicente Vidal, Architekturprofessor und Vizerektor der Technischen Universität in Valencia. Seine Fakultät hat immer wieder Studien über das vor hundert Jahren eingemeindete Fischerdorf El Cabanyal verfasst. „Das Siedlungskonzept ist vorbildlich.“ Vidal schwärmt von der „Intuition der einfachen Leute“. Die Straßen laufen alle von Nord nach Süd, parallel zur Küste, anders als die Wohnblocks entlang der Avenida Ibáñez, die von Ost nach West ausgerichtet sind. Die Meeresbrise sorgt damit immer für einen leichten Durchzug im Cabanyal und kühlt die Häuser im heißen, trockenen Sommer. Die meisten Wohnungen haben zwei Wohnzimmer. Eines nach Osten und eines nach Westen. Im Winter folgen die Bewohner der Sonne, im Sommer meiden sie sie.

„Statt einer Straße braucht der Stadtteil einen Sanierungsplan. El Cabanyal ist wie ein fein gewobener Teppich. Wenn man in der Mitte Fäden durchschneidet, franst das Ganze aus“, meint Vidal. Die Zukunft liege in jungen Intellektuellen und Künstlern, die sich in der letzten Zeit verstärkt im Cabanyal niederlassen. Nur wenn die dem Stadtteil eigenen Mechanismen und Sozialstrukturen respektiert würden, könne er wiederbelebt werden. „Die Städteplaner haben immer wieder diese wahnwitzige Idee, diejenigen zu sein, die die Stadt vollenden. Doch das ist unmöglich. Städte sind dynamisch.“

REINER WANDLER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen