: Schöne neue Aussichten
Berliner Verhältnisse, Münchner Strukturen: Über den Hauptstadtdiskurs am Tresen. Eine Kurzgeschichte
„Ich würde ja sofort den Stoiber wählen“, erzählt der junge Mann ungefragt. Er trägt lässige Wollmütze zu lässigem Bärtchen. Doch der verbale Sondermüll, den er rücksichtslos in meine Gehörgänge verklappt, entlarvt sein Hip-Hop-Outfit als dreiste Verkleidung: „Ich bin ja sonst nicht so für die CSU-Politik“, wiegelt er ab, um im nächsten Moment draufzusetzen: „Ich leb’ jetzt seit zwei Jahren in Berlin: Mich kotzt das einfach an, hier ständig diese kranken, blassen Gestalten in diesem irren Schmutz rumschlurfen zu sehen. Überall so scheiß Arme: das nervt! Einer wie der Stoiber würde hier sofort die Strukturen schaffen – wie in München!“
„Strukturen wie in München“: Am Morgen wachst du in deiner tapezierten Sardinendose auf, die pro Quadratmillimeter eine Million Mark Miete kostet. Du ziehst dich an, schön, geschmackvoll, sauber, langweilig, sonst darfst du nicht auf die Straße. Die Straße ist sauber: Mach die schöne Straße nicht schmutzig, denn sonst verpfeift dich der Denunziant, getreu dem Slogan „Fangt die Umweltsau!“, der ursprünglich dazu gedacht war, Preußen und andere Ausländer dingfest zu machen, die die gelbe mit der grauen Tonne verwechselt haben.
Und, gähn, was machst du jetzt in München? Wie alle hast du eine Million Mark in der Tasche, wegen der Strukturen. Von dem Geld könntest du einen schönen Milchkaffee trinken gehen und dich mit den schönen Menschen über das einzige Thema dieser schönen Stadt unterhalten, die „Nackerten“. Das sind Leute, die sich unbekleidet in die Sonne legen, um die schönen gewachsenen Strukturen zu zerstören. Nachdem man vergeblich versucht hatte, alle zu verhaften, wurde ihnen ein Reservat an einem unheimlich reißenden Klärwerksabfluss eingerichtet. Das ist eigentlich das einzige Thema hier, denn über einen Fußballverein, der immer gewinnt, lässt sich schlecht debattieren. Abends diskutierst du weiter über die „Nackerten“ – im Biergarten, vor einem schönen Glas Bier, das eine Million Mark gekostet hat. Dafür ist es wenigstens groß genug. Um zehn macht der Biergarten zu, und jetzt gehst du besser schön nach Hause.
Nur ein einziges Mal war ich nachts in München in der Disko. Dort hat mich eine schöne Frau geküsst, und es war schon nach zehn! Da kam ein bayrischer Albaner und hielt mir seinen Finger wie eine Pistole an den Kopf. „Meine Freundin“, hat der albanische Bayer gesagt, „für 200 Mark kannst du ficken.“ – „Was geht denn hier ab?“, habe ich gedacht, und dann: „Aber immerhin billiger als der Milchkaffee.“ Trotzdem habe ich freundlich abgelehnt und der Albayer hat gesagt, „dann nicht küssen, oder …“ und hat abgedrückt. Aus Berlin war ich gewohnt, dass die Lokalitäten für kostenpflichtige und die für umsonstene Frauen selbstredend getrennt sind, aber ich war jung und brauchte den Denkzettel: Also, um zehn geht man wirklich besser nach Hause – der Münchner braucht seinen Schönheitsschlaf.
„Das sind einfach die Strukturen, die Berlin auch braucht“, kräht das kecke Hähnchen und verkleistert mir mit seiner klebrigen Denkbrühe derart das Hirn, dass ich mit dem Rücken zur Gummiwand dünn mit Unvergleichbarkeit der Verhältnisse argumentiere, mit dem Niedergang der Schwerindustrie, der Wende und vierzig Jahren Ebi-/Bubi-/Harald-Diktatur. Hätte ich mal bloß anstelle dieses gläsernen Floretts der Wortführung den weitaus passenderen schweren Säbel gewählt: „Im Grunde müsste man euch von Morgens bis Abends ununterbrochen die Fresse polieren, deinem Stoiber und dir“ – das einem so etwas immer erst hinterher einfällt!
„Aber das Nachtleben hier“, ertönt das letzte frühvergreiste Bekenntnis, „das ist natürlich was. Da muss man bei der Neustrukturierung schon aufpassen, dass der Charakter der Stadt dabei nicht verloren geht.“ – “Ja, das muss man“, stimme ich zu und ich weiß auch schon, wie: Leute wie ihn erst mal zur Abschiebehaft im „Schmankerl-Restaurant ‚Leopold’s‘“ internieren. Dort wird ihm dann ein Brechmittel verabreicht, an dem er „versehentlich“ krepiert, wie zuvor schon längst der münchinfizierte Charakter dieser Stadt. Da hätte es wenigstens einmal nicht den falschen getroffen.
ULI HANNEMANN
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