: The making of
Verkehrte Welt in der Redaktion an der Schlachte: sieben PolitikerInnen arbeiten einen Tag als Redakteure und schreiben einen Artikel nach dem anderen – für die Abgeordneten-taz
Freitag, 9.30 Uhr. Die taz hat sieben neue Redakteure! Alle sind pünktlich zur Morgenkonferenz gekommen – fast alle. Nur Bürgerschaftspräsident Christian Weber (SPD) sagte kurz vorher ab: „Bei mir steht der Keller unter Wasser.“
Heute ist Abgeordneten-taz. Rollenwechsel total in der Redaktion an der Schlachte. Normalerweise hauen die tazzen die Volksvertreter gerne mal in die Pfanne. Heute besetzen zwei Grüne, drei CDUler und zwei Sozialdemokraten die Redakteursposten. Kann das im Vorwahlkampf gut gehen? Gibt die taz ihre journalistische Unabhängigkeit durchs Klüngeln mit den Politikern preis? Bange Fragen, die sich die Redaktion gestellt hatte.
Aber: Nur Versuch macht kluch. Deshalb war das Ergebnis des Experiments in der Samstagsausgabe zu besichtigen. Und, dass selbst eingefleischte Parteipolitiker auch mal gegen den Fraktionszwang anstinken können. Die Abgeordneten arbeiteten verdammt professionell: Jeder kam mit eigenen Themenvorschlägen, Kritik und Wünschen an ihre taz.
Zunächst die Blattkritik, die schönste Zeitung Bremens wird auseinander genommen. Karoline Linnert, Fraktionschefin der Grünen, will „mehr Sport“, CDU-Fraktionsgeschäftsführer Heiko Strohmann „ärgert sich“ über böse Bemerkungen. Hermann Kleen, innenpolitischer Sprecher, erzählt, dass er jüngst einen taz-Artikel über den Untersuchungsausschuss an einen Kollegen vom Weser-Kurier gefaxt hat, weil der Kollege „einfach nix kapiert“ hatte. „Gibt es noch einen anderen Kulturteil in Bremen?“, fragte Claas Rohmeyer, bildungspolitischer Sprecher der CDU.
Ulrike Hövelmann, die Bildungs-Expertin der SPD-Fraktion, schlägt gleich fünf Geschichten auf einmal vor. Dabei: Die Aktion mit der „Gender“-Toilette für Männlein und Weiblein an der Uni und der Abgang der Frauenbeauftragten der Hochschule. Und die Story, „wie sich Grüne, Schwarze und Rote in Bremen gegenseitig die Hunde ausführen“. Aber das ist ihr dann doch zu heikel. Tja, im September wird gewählt.
Hermann Kleen, früher selbst lange Jahre Journalist, will das Kopftuch-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts lokal für Bremen weiterdrehen, „das kann auch klein sein, ein Zweispalter oder so“. Außerdem kündigt er gleich eine 150 Zeilen lange „Starbuck Holger Meins“-Rezension samt Interview mit dem Regisseur Gerd Conrad an.
Die CDU-Kulturfrau Viola Mull will zur Pressekonferenz „Galery Fiction“ über die Galerie der Zukunft, Karoline Linnert nicht zum Pressetermin mit Bürgermeister Henning Scherf (SPD), „der sich mit einer hochrangigen koreanischen Delegation unter Leitung von Gouverneur Tae-Young Park“ trifft. Vielmehr schlägt sie das vor, was zu diesem Zeitpunkt noch viele für den Aufmacher vom Samstag halten: „Der Senat will 100.000 Euro für 15 Parkplätze an der Kurfürstenallee ausgeben.“
10.30 Uhr. Die Neu-Redakteure werden eingewiesen: Sie bekommen Blocks und Kulis, lernen das vertrackte Redaktionssystem kennen und wuseln los. Einige rauschen zur Recherche. „Guten Tag, Rohmeyer, taz Bremen“, meldet sich der CDUler brav am Telefon. Alles wie die Profis.
13 Uhr. Die Redaktion ist verwaist, die tazzen machen sich Sorgen. Normalerweise ist jetzt Essenszeit. „Wo sind die denn alle?“, fragt die Chefin vom Dienst, Dorothee Krumpipe. Dabei sitzt ein Großteil der Redaktion beim Italiener an der Schlachte. Also: Alles kein Problem. Ulrike Hövelmann verputzt ihre Spaghetti und drängt Richtung Rechner: „Sagt dem Konflikt, dass ich komme!“
14.30 Uhr. Nachmittagskonferenz, das Blatt vom Samstag wird endgültig festgeklopft. Außerdem muss den neusten Entwicklungen des Tages nachgegangen werden. Chefin Krumpipe: „Die Arbeits- und Jugendwerkstätten Bremens werden aufgelöst. Da müssen wir nachhaken.“ Caroline Linnert meldet sich. Dabei muss sie schon die Parkplatzarie schreiben – als Seitenaufmacher für die Politik-Seite. Nach sorgfältiger Abwägung vermeldet die Chefin: „Aufmacher vorne wird Karin Mathes mit ihrer Story zur Senatsvereinbarung über das Waller Fleet.“ Die umweltpolitische Sprecherin der Grünen schmeißt sich mutig an die Tasten. Dabei scheuen sich bisweilen selbst gestandene Redakteure, die rund 110 Zeilen mit dem Aufreger des nächsten Tages zu füllen.
16.00 Uhr. Die Redaktion arbeitet auf Hochtouren. Karoline Linnert hadert mit einem Redakteur, der einen Satz nicht durchgehen lassen will, ein Rechner spielt verrückt: Ulrike Hövelmann kommt nicht mehr an ihre Texte. Aber: Die Abgeordneten bleiben ruhig.
18.00 Uhr. Irgendwann ist auch das Computer-Problem gelöst, Ruhe kehrt ein. Der Rostocker Heiko Strohmann ist schon fertig und plaudert über die Flucht aus der DDR, damals im Oktober 1989, der Aufmacher von Karin Mathes ist redigiert.
18.45 Uhr. Die Abgeordneten-taz ist fertig. So früh schaffen die Profi-tazzen das selten. Die Redaktion ist echt verblüfft. Ob die Politiker nicht öfter kommen können, fragt einer. Karoline Linnert: „Wenn ihr euch dann mit dem Senat streitet, gerne!“
Kai Schöneberg
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