: Doppelbödige Normalität
Das Berliner Stadtschloss wird rekonstruiert. Mit „linkem Wilhelminismus“ hat die Entscheidung nichts zu tun. Aber sie zeigt die Zweideutigkeit rot-grüner Geschichtspolitik
Der Bundestag hat entschieden: Das Stadtschloss wird gebaut. In traditionell linker, bundesdeutscher Lesart mag dieser Entschluss wie eine Rolle rückwärts wirken – wie ein Rechtsschwenk, wie trübe Normalisierung. Ein feudales Bauwerk am zentralen Ort der Republik – da wird nicht nur eine Fassade, da wird, pars pro toto, die Illusion einer heilen nationalgeschichtlichen Kontinuität wieder aufgebaut.
So lautet der Verdacht. Doch bei genauerem Hinschauen verschwindet das Eindeutige. Denn jede routinierte „Nie wieder“-Rhetorik verfehlt die doppelsinnige Pointe der Schlossrekonstruktion. Dieses Schloss, mit barocker Fassade und modernem Inneren, wird die Zweideutigkeiten der rot-grünen Geschichtspolitik widerspiegeln.
Als Rot-Grün frisch im Amt war, erwärmte sich Gerhard Schröder für das Stadtschloss. Damals redeten manche prompt besorgt von einem heraufziehenden „linken Wilhelminismus“. Das lag nahe, denn 1998 geschah ja mehr als ein Regierungswechsel: Zum ersten Mal waren Politiker an der Macht, die den Krieg nicht mehr erlebt hatte. Sie regierten nicht im Geschichtsvakuum Bonn, sondern in Berlin, umgeben von prekärer nationaler, historischer Symbolik. Der Kanzler, ein Aufsteiger, dem Geschichte wurscht ist, redete nassforsch vom „Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation“. Sprach also nicht einiges dafür, dass Rot-Grün mit flottem Eklektizismus alle Traditionen beerben würde, wenn sie gerade ins Geschäft passten?
Die Vokabel „Normalisierung“ ging dieser Regierung leichter über die Lippen als jeder zuvor. Unter Helmut Kohl hätten viele argwöhnisch Schlussstrich-Mentalität vermutet – jede konservative Regierung stand erinnerungspolitisch unter Generalverdacht. Für Rot-Grün galt gerade das Gegenteil. Wie nebenbei riss diese Regierung die außenpolitischen Schranken ein, die für die Kohl-Generation noch gegolten hatten: Die Doktrin, dass die Bundeswehr nicht eingesetzt wird, wo die Wehrmacht gewütet hatte, verschwand von der Tagesordnung. Das Ende der Nachkriegszeit besiegelten 1999 deutsche Panzer in Prizren, ein Ereignis, das die in Vergangenheitsfragen so empfindsame hiesige Öffentlichkeit mit einem Achselzucken hinnahm.
Joschka Fischer und Rudolf Scharping versuchten sogar den Kosovokrieg, mit dem Verweis auf Auschwitz moralisch zu retten. Das war ein grobes, diskursives Foul: eine hochmütige, unzulässige Moralisierung eines politischen Konflikts, ein Vergleich des Unvergleichbaren. Denn es gab auch gegen den Kosovokrieg vernünftige Gründe – das sollte der Verweis auf Auschwitz verdrängen.
Dies war im Grunde ein erinnerungspolitischer GAU – eine dreiste Indienstnahme von Geschichte für eigene Zwecke. Doch die Kritik blieb rar, der Skandal fand nicht statt. Fischer & Co., die Unverdächtigen, die gegen die Kiesinger-und-Globke-Republik politisierten 68er, konnten sich erinnerungspolitisch fast alles erlauben. Kanzler Schröder durfte sich leutselig ein Holocaust-Mahnmal wünschen, zu dem man gerne geht, und (allerdings als Vernunft in Person) am 8. Mai mit Martin Walser auftreten. Die Empörung hielt sich stets in Grenzen.
Die rot-grüne Koalition hat einen symbolischen Normalisierungsschub beschleunigt, von dem manche Konservative in den 90er-Jahren vergebens geträumt hatten. Doch das ist nur die knappe Hälfte der Wahrheit. Denn zur rot-grünen Bilanz gehört auch die Habenseite: die Zwangsarbeiterentschädigung, die Rehabilitierung der Wehrmachtdeserteure, das Holocaust-Mahnmal, der Inbegriff, dass der Holocaust unverrückbar zum Selbstbild der Republik gehören soll.
Auch da ist manches zu kritisieren – die stumpfe bürokratische Weigerung, italienische Zwangsarbeiter zu entschädigen, oder Schröders engherzige Krämerkommentare zu den Entschädigungsverhandlung etwa („fünf Milliarden Mark und nicht mehr“). Aber zumindest Letzteres verblasst.
Was bleibt, sind die Fakten: Ohne Rot-Grün hätte kein früherer Zwangsarbeiter in Minsk und Warschau, in Lwow und Pilsen je Geld bekommen. Ohne Rot-Grün hätte keiner der wenigen noch lebenden Wehrmachtdeserteure eine offizielle Geste der Gerechtigkeit erlebt. Vereinfacht gesagt: Diskursiv und symbolisch hat Rot-Grün versagt – dafür praktisch halbwegs das Nötige getan.
Das ist nicht gering zu schätzen. Gerade die Zwangsarbeiterentschädigung hat den Blick für die Egomanie des hiesigen Erinnerungsbetriebs geschärft: Steile Thesen, ob von Daniel J. Goldhagen oder Walser, sorgen verlässlich für Radau und Auflage – die komplizierten, undurchsichtigen Entschädigungsverhandlungen wurden indes als irgendwie strapaziös empfunden.
Zur Habenbilanz zählt auch ein Lerneffekt. Sogar der, was Historisches betrifft, desinteressierte und begriffsstutzige Gerhard Schröder hat gelernt, dass deutsche Normalität eine vertrackte dialektische Veranstaltung ist. Wer glaubt, sie endlich zu besitzen und für sich reklamieren zu dürfen, erzeugt damit manchmal genau das Gegenteil – nicht nur in Washington und Jerusalem.
Die Entscheidung, die barocke Schlossfassade zu rekonstruieren, spiegelt das vermischte, uneindeutige Bild der Geschichtspolitik der rot-grünen Ära. Vor ein paar Jahren erregte die Idee, das Schloss wieder aufzubauen, vor allem den Verdacht, dass hier ein ästhetischer und geschichtspolitischer Rollback unternommen werden sollte. Doch die Front der Gegner bröckelte von Jahr zu Jahr, und zwar in dem Maße, in dem die Rhetorik des „Nie wieder“ ermüdete. Nun hat, was gestern als reaktionär und antimodern verdammt wurde, gesiegt – nicht zufällig unter Rot-Grün. Denn dieses Schloss passt zu gut zu Schröders doppelbödiger neuer Normalität.
Als Beweis für „linken Wilhelminismus“, als Beschwörung einer wiedergefundenen heilen nationalstaatlichen Kontinuität taugt diese Fassade gerade nicht. Wenn nicht alles täuscht, wird dieses Schloss ein eigentümliches, bizarres Stilpuzzle, ein historisches Patchwork mit barockem Außen und dem Volkskammersaal aus dem Palast der Republik innen.
Dieser Bau – innen Beton, außen Imitat – wird die geschichtspolitischen Befürchtungen der Kritiker so wenig erfüllen wie die Nostalgiewünsche mancher Anhänger. Er wird aussehen wie der Frankfurter Römer: putzig und künstlich, so als wäre er eigens für US-amerikanische Touristen gebaut.
„Disneyland“ haben seine Kritiker den Bau genannt. Das war ein unscharfes Argument – denn das Stadtschloss wird weder echt noch wie einem Comic entlehnt wirken, sondern wie etwas dazwischen – eben wie ein Barockgebäude des 21. Jahrhunderts. Es wird keine historische Rekonstruktion werden, sondern ein Monument des Posthistorie. Dieses Schloss wird, mitten in Berlin, ein unübersehbares Zeichen sein für dumme Sehnsucht nach Unerfüllbarem: nach der „neuen Normalität“ der deutschen Vergangenheit. Das ist die List der (Architektur-)Geschichte.
STEFAN REINECKE
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