: Berlin macht irre
In der Hauptstadt werden immer mehr Menschen psychisch krank. Krankenkasse macht dafür die miese wirtschaftliche Lage in der Stadt und die schlechten Arbeitsbedingungen verantwortlich
von RICHARD ROTHER
Das Leben in Berlin macht immer mehr Menschen krank – und zwar physisch wie psychisch. Während beim allgemeinen Krankenstand die Hauptstadt seit Jahren an der Spitze der Statistik steht, ist jetzt auch der Anteil psychisch Kranker deutlich gestiegen. Waren 1999 noch 9,6 Prozent der Erkrankungen von Angestellten psychisch bedingt, so stieg dieser Wert auf 10,5 Prozent im Vorjahr. Berlin liegt hierbei deutlich über dem Bundesdurchschnitt (7,9 Prozent). Diese Zahlen veröffentlichte gestern die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK), die in ihrem Gesundheitsreport 2001 ihre Versicherungsfälle analysierte. Der Report ist zwar nicht für die gesamte Berliner Wirtschaft repräsentativ, wohl aber für den öffentlichen Dienst und den Dienstleistungssektor.
Dennoch dürften die Zahlen eine Gesamttendenz widerspiegeln. DAK-Landeschef Herbert Mrozek zog eine Verbindung zwischen der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Zunahme psychischer Erkrankungen. Eine Ursache sei in der instabilen wirtschaftlichen Lage Berlins und in den Arbeitsbedingungen zu suchen. Der hier stark vertretene Dienstleistungsbereich sei besonders von seelischen Erkrankungen der Mitarbeiter betroffen, so Mrotzek.
Klar: Wer Angst um seinen Job oder Stress am Arbeitsplatz hat, dreht schon mal durch oder wird depressiv. Anlässe dafür gibt es in Berlin genug, hat doch die Zahl gesicherter Arbeitsplätze in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen. Nur rund ein Drittel aller Beschäftigten hat eine unbefristete Vollzeitstelle; viele schlagen sich mit Teilzeitjobs oder als Scheinselbständige durch.
Dennoch sind die DAK-Zahlen nicht allein auf die schwache Wirtschaftslage zurückzuführen. So lassen sich auf dem Land oder in Ostdeutschland weniger Menschen psychisch behandeln als im Durchschnitt: Psychische Erkrankungen werden hier häufig stigmatisiert, schwer fällt der Gang zum Arzt. Insofern ist ein relativ aufgeschlossenes Großstadtklima auch ein Grund für die Zunahme registrierter Psycho-Erkrankungen.
Dass der Hinweis auf die schlechte wirtschaftliche Lage dennoch berechtigt ist, zeigt der Vergleich mit einer anderen Großstadt: Hamburg. Im Durchschnitt fallen nämlich 100 Berliner DAK-Mitglieder jährlich 182 Tage wegen psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz aus, in der Hansestadt sind es 162 Tage.
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