: „Fragen, bis es peinlich wird“
Deutsches Lernen – eine Trivialisierung: Der Unterricht muss sich ändern, denn er ist das Hauptproblem der Schule, meint der Pisa-Chef. Jürgen Baumert über das Scheitern des sokratischen Dialogs und was die gegliederte Schule damit zu tun hat
Interview SABINE AM ORDE und CHRISTIAN FÜLLER
taz: Herr Baumert, Sie tragen ihre Pisa-Studie stets in stoischer Ruhe vor. Gibt es eigentlich etwas an den Ergebnissen, das Sie aufregen könnte?
Jürgen Baumert: Am stärksten betrifft mich, dass wir die Lebensperspektive eines großen Teils unserer Jugendlichen gefährden. Das ist das Skandalon unseres Bildungssystems.
Sie meinen die großen Gruppen an Risikoschülern?
Es geht einfach nicht, dass wir ein Viertel der jungen Leute auf den Arbeitsmarkt entlassen – und wissen, dass sie nicht gut genug ausgebildet sind. Diese Jugendlichen werden große Anschlussprobleme haben, weil ihnen die Voraussetzungen zum selbstständigen Weiterlernen fehlen. Für mich ist deshalb klar: Die Sorge für Sockelqualifikationen muss Vorrang haben vor der Frage, ob ich einige Schüler mehr aufs Gymnasium schicken kann.
Betrifft dieses Problem alle Bundesländer?
Die regionalen Schwankungen sind zu groß. Manche Länder haben ungewöhnlich viele Risikoschüler, manchen gelingt es nicht, die Mindeststandards im Gymnasium zu sichern. Eltern werden daher mit Recht an der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zweifeln …
… die im Grundgesetz festgeschrieben ist.
Es kann einen Gymnasiasten ein bis zwei Jahre kosten, von der Weser an die Isar zu wechseln.
Woher kommen die großen Unterschiede zwischen Bayern und Bremen?
Das Leistungsgefälle zwischen den Ländern beruht zu einem nicht geringen Teil auf Kontextunterschieden – das ist das gesellschaftliche, ökonomische, soziale und kulturelle Umfeld, in das die Schule eingebettet ist.
Die Schule ist für die Unterschiede nicht verantwortlich?
Die Schule vermittelt sie. Es macht ja bereits einen Unterschied, ob eine Schule eine engagierte Elternschaft und eine Lehrerschaft hat, die ihren Beruf und die Tätigkeit ernst nimmt.
Ist das Soziale so wichtig? Ist Bayern gut, weil es reich ist?
Es gibt keinen direkten kausalen Zusammenhang, aber es kommt vieles zusammen. Wenn Sie im Mittel eine höhere Sozialstruktur feststellen, finden Sie auch mehr Eltern mit höheren Bildungsaspirationen …
… mehr Erwartung an den Erfolg in der Schule.
Genau, Sie haben mehr Dampf im System. Eltern sind engagierter, aber auch kritischer und aufmerksamer. Die Lehrerschaft – aber auch die Verwaltung – ist stärker herausgefordert, aber auch besser gestützt. Das ganze System ist wacher. In strukturschwachen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit, leeren öffentlichen und privaten Kassen geraten viele Familien unter Druck. Es fällt dann schwer, frei über die Bildung der Kinder nachzudenken. Wir beobachten eine Art Marienthal-Effekt …
… mit fehlender Arbeit und sinkendem Wohlstand gehen der soziale Zusammenhalt, die Gesundheit, der Schwung einer ganzen Region darnieder.
Sachsen-Anhalt ist in so einer ungemein schwierigen Situation. Es gibt Industriebrachen neben ärmeren ländlichen Gebieten, die Menschen wandern weg.
Bei Pisa International standen mit Finnland und Kanada integrative Schulsysteme vorne. Beim Bundesländervergleich ist das anders, jetzt führt das selektive Bayern. Wie passt das zusammen?
In Bayern – wie übrigens auch in Rheinland-Pfalz – sind die weiterführenden Realschulen und Gymnasien schwächer ausgebaut, sodass der Sockel der Hauptschule breiter bleibt. In beiden Ländern besuchen über 35 bzw. 40 Prozent der Neuntklässler die Hauptschule.
Wie in den 50er-Jahren in ganz Deutschland.
Damals gingen 75 Prozent der Bevölkerung auf die Hauptschule, die noch Volksschule hieß. In Bayern käme niemand auf die Idee, von der Hauptschule als Restschule zu sprechen. In einer solchen Hauptschule ist es leichter, Leistungsstandards durchzusetzen und vor allem die Erwartung, dass die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler die gesetzten Ziele auch erreicht.
Ist ein selektives System also auch für jene besser, die aussortiert werden?
Es ist zunächst einmal im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung und die Abschlüsse ungerechter, wenn Sie so wollen. Der Zugang zum bayerischen Gymnasium ist in ganz ungewöhnlicher Weise herkunftsabhängig. Innerhalb dieser Logik hat die breite bayerische Hauptschule aber Vorteile bei der Leistungsförderung. Das kommt gerade Jugendlichen aus sozial schwächeren Familien und wahrscheinlich auch Migrantenkindern zugute.
Die Bildungsreform der 70er ist auf halbem Wege stecken geblieben?
Die tragende Idee der Bildungsreform war es, weiterführende Bildungsgänge zu öffnen und so das Bildungsniveau der gesamten nachwachsenden Generation anzuheben. Das ist aber kein Selbstläufer.
Warum nicht?
Die Schülerschaft des Gymnasiums wird mit der Öffnung notwendigerweise heterogener. Wenn man das aber nicht als pädagogische Herausforderung, sondern als Fehler der Auslese betrachtet, bekommt man ein Problem. Es wird schon gar nicht leichter, wenn man die Hauptschule gleichzeitig durch die Einführung einer vierten Schulform schwächt.
Muss die Hauptschule also wie in Bayern breiter werden? Ist das der politische Schluss?
Nein, das würde gar nicht gehen. Die Bildungsbeteiligung ist nicht direkt politisch steuerbar. Die Eltern haben sich mit ihren Bildungsaspirationen in allen Ländern mehr oder weniger durchgesetzt. Regulativ wirkt allenfalls das regionale Angebot weiterführender Schulen – wohnortnahe Gymnasien nutzen sozial schwächeren Familien.
Was kann man denn tun?
Die eigentliche Herausforderung liegt in der Sicherung einer ausreichenden Sockelqualifikation für alle. Pisa hat nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer frühen und frühesten Förderung in den Basiskompetenzen aufmerksam gemacht. Gerade die Risikojugendlichen sind darauf von Anfang an angewiesen. Für sie ist das die einzige Chance, Anschluss an eine moderne Grundbildung zu erhalten. Dennoch stellt sich in Ballungsgebieten die Frage, ob ein zurückgehender Hauptschulbesuch nicht strukturelle Antworten verlangt.
Gibt es dafür Beispiele?
Sachsen und Thüringen, und auch das Saarland, haben den Schritt zur Zweigliedrigkeit getan. Die Sekundar- oder Mittelschulen geben größere Freiheiten der schulinternen Gruppenbildung. In vielen Schulen findet man eine Mischung von Trennung und Integration je nach Altersstufe und Unterrichtsfach.
Die Schüler mischen – war das nicht mal die Idee der Gesamtschule?
Die Pisa-Befunde zeigen, dass die größere Leistungsheterogenität sich in Gesamtschulen nicht automatisch positiv auswirkt. Dort ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistungsentwicklung eher enger als in anderen Schulformen. Über die Frage der sozialen Disparitäten im Kompetenzerwerb wird letztlich im Unterricht entschieden. Entscheidend ist, ob ich intelligent unterrichte und mit Unterschieden umgehen kann.
Über Unterricht haben wir seit Pisa kaum jemand reden hören. Wo ist das Problem?
Die Befunde der Timss-Videostudie weisen darauf hin, dass die Unterrichtskultur – jedenfalls im Mathematikunterricht – über die Länder hinweg relativ homogen zu sein scheint. Die grundlegende Choreografie des Unterrichts ist sehr ähnlich.
Wie sieht sie aus?
Der Grundgedanke dieses Unterrichtsskripts ist es, das Wissen, das Schüler mitbringen, im Gespräch zu entfalten, zu reinigen und zu erweitern. In der Regel beginnt der Unterricht mit einem komplexen, durchaus schwierigen Ausgangsproblem, das im Unterrichtsgespräch konvergent zu einer Klärung oder Lösung geführt wird.
Der „fragend-entwickelnde Unterricht“?
Ja, allerdings ist dies eine anspruchsvolle Unterrichtsführung, die, wenn es gelingt, sehr befriedigend sein kann. Im Grunde wird die literarische Kunstform des sokratischen Dialogs auf die Schulklasse übertragen. Bei dieser Gesprächsführung ist die Lehrkraft allerdings in hohem Maße auf die „richtigen“ Antworten der Schülerinnen und Schüler angewiesen, um zum Unterrichtsziel zu gelangen – das die Schüler in der Regel zunächst nicht kennen. Die dann häufig tastenden Antworten sind für den Lehrer in diesem Unterrichtsstil häufig unbrauchbar.
Was macht der Lehrer, wenn die Antworten nicht passen?
Man sieht häufig zwei miteinander verbundene Vorgehensweisen. Die Lehrkraft fragt von Schüler zu Schüler, wobei die „falsche“ Antwort nicht selten mit einer bewertenden, manchmal auch kränkenden Nebenbemerkung quittiert wird. Gleichzeitig werden die Fragen immer einfacher. Am Ende können sie so simpel sein, dass es den Schülern peinlich ist, sie zu beantworten. Man spricht von einer schrittweisen Trivialisierung eines komplexen Ausgangsproblems.
Mit welchen Antworten kann der Lehrer nicht umgehen?
Die eine ist der Fehler. Bei der engschrittigen zielgerichteten Unterrichtsführung fehlt es an Zeit, Fehler produktiv zu nutzen, indem man ihren Ursachen oder Folgen nachspürt.
Und die andere „falsche“ Antwort …
… ist die kluge, vorgreifende Antwort, die das Unterrichtsziel vorwegnimmt. Auch die muss die Lehrkraft beiseite schieben, weil sie den geplanten Unterrichtsverlauf zerstört. In der Schwierigkeit, mit beiden Antwortformen gut umzugehen, liegt das zentrale Problem der Choreografie des fragend-entwickelnden Unterrichts: Sie erschwert den Umgang mit Heterogenität. Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb Lehrer an weiterführenden Schulen in Deutschland regelmäßig über zu heterogene Klassen klagen – obwohl sie die homogensten Lerngruppen der Welt haben. Sogar bei der Gruppenarbeit fallen Lehrkräfte oft in dieses Muster.
Woher kommt dieses Unterrichtsverhalten?
Das ist die Gymnasialtradition des anspruchsvollen philologischen Unterrichts. Der hat sich als Generalform erst in den Gymnasien, dann in den anderen Schulformen durchgesetzt.
Aber es gibt doch auch eine andere Tradition?
Ja, bis Mitte der 60er-Jahre hatten mehr als die Hälfte aller Volksschulen altersgemischte Kombinationsklassen. Wenn eine Lehrkraft zwei oder drei Altersjahrgänge in einer Klasse zu unterrichten hat, kann man keinen sokratischen Dialog beginnen. Dann müssen sie die Schüler in der Klasse teilen – der Abteilungsunterricht, bei dem ältere Schüler als Tutoren eingesetzt werden. Die älteren Volksschullehrer konnten das. Es gibt einige Gesamtschulen, die diesen professionellen Erfahrungsschatz allmählich wiedergewinnen.
Heißt das: Wir müssen das Unterrichten neu lernen?
Wir müssen ganz allgemein lernen, wieder mit heterogenen Schülergruppen umzugehen.
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