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Güle Güle, kranker Mann

Die eigenen Gefolgsleute sagen dem türkischen Ministerpräsidenten Ecevit Adieu – und bereiten sich auf Neuwahlen vor

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit ist am Ende. Obwohl der schwer kranke Ecevit sich gegen vorgezogene Neuwahlen stemmt und noch gestern drei neue Minister ernannte, lassen ihn seine Koalitionspartner und ein großer Teil seiner eigenen Partei im Stich. Sechs Minister kündigten bis gestern ihren Rücktritt an, insgesamt 28 Abgeordnete verließen Ecevits Partei.

Erst vor wenigen Tagen hatten die Vorsitzenden der drei Koalitionsparteien feierlich versichert, die Legislaturperiode bis zum regulären Wahltermin im Frühjahr 2004 durchzuhalten. Doch der Chef der zweitgrößten Regierungspartei, Devlet Bahceli, vollzog am Sonntag einen kompletten Schwenk und forderte vorgezogene Neuwahlen für November. Ecevit wies diese Forderung scharf zurück und kritisierte seinen Stellvertreter Hüsamettin Özkan, weil er Bahceli nicht gestoppt hatte. Daraufhin reichte Özkan, der seit Monaten de facto die Regierungsgeschäfte führt, seinen Rücktritt ein.

Damit war die Entscheidung gefallen. Prompt legten weitere Minister aus Ecevits DSP ihr Amt nieder, und zahlreiche DSP-Abgeordnete kündigten an, die Fraktion zu verlassen. Damit hat Ecevits DSP nicht nur ihre Position als stärkste Fraktion an die ultrarechte MHP verloren, sie steht auch vor der Spaltung. Als die Entscheidung gegen Ecevit bereits gefallen war, forderte der Vorsitzende der kleineren Koalitionspartei Anap, Mesut Yilmaz, ebenfalls vorgezogene Neuwahlen.

Yilmaz möchte die Wähler bereits Ende September an die Urnen rufen, um möglichst schnell wieder eine handlungsfähige Regierung zu ermöglichen. Die Türkei brauche dringend eine aktive Führung. Sie müsse die nötigen Reformen auf den Weg bringen, damit die EU auf ihrem Gipfel im Dezember den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschließen könne. Das sei man den kommenden Generationen schuldig.

Auf Anordnung des Parteichefs Bahceli werden innerhalb der ultrarechten MHP-Fraktion die notwendigen Unterschriften gesammelt, um das Parlament aus der Sommerpause zu einer Sondersitzung zusammenzurufen. Mit einfacher Mehrheit, an deren Zustandekommen es kaum noch Zweifel gibt, wird das Parlament dann Neuwahlen beschließen. Damit geht eine monatelange Agonie in der türkischen Politik zu Ende.

Entscheidend für den Wahlausgang ist, was ohne Ecevit aus der linksnationalistischen DSP wird. Nach den Umfragen hat die DSP derzeit keine Chance auf einen Stimmenanteil von 10 Prozent, der für einen Wiedereinzug ins Parlament notwendig ist. Auch die Rechtsparteien Anap und MHP werden die Hürde möglicherweise nicht überspringen. Während die ultrarechte MHP aber wohl noch zulegen wird, ist das Schicksal der bürgerlichen Anap und damit von Mesut Yilmaz völlig ungewiss. Obwohl Yilmaz sich als Speerspitze der Reformer geriert, wird er aufgrund zahlreicher Korruptionsaffären kaum noch ernst genommen.

Weit vorn liegen in den Umfragen die islamistische Oppositionspartei AK Parti (siehe unten) und die derzeit nicht im Parlament vertretene sozialdemokratisch-kemalistische CHP. Dazu kommen mehrere neu gegründete Parteien, deren Chancen kaum einzuschätzen sind.

Mit Spannung wird auch erwartet, in welche Richtung sich der populäre Außenminister Ismael Cem und Wirtschaftsminister Kemal Dervis orientieren werden. Beide sind als potenzielle Nachfolger Ecevits an der Spitze der DSP im Gespräch. Und beide sind die Hoffnungsträger für den Teil der Bevölkerung, der eine reformorientierte, nach Westen gewandte Politik unterstützt.

Allerdings haben es beide schwer, eine eigene Hausmacht in der Partei zu mobilisieren. Cem gilt vielen DSP-Abgeordneten als abgehobener Intellektueller. Dervis, der erst vor gut einem Jahr von der Weltbank in Washington nach Ankara kam, traut man mangels politischer Erfahrung in der türkischen Politik die Führung der Partei nicht zu.

Die DSP droht sich deshalb ohne starken Nachfolger Ecevits in ihre Bestandteile aufzulösen. Etliche DSP-Abgeordnete werden versuchen, bei der Konkurrenz unterzukommen und zur CHP zu wechseln. Die traditionell-linke Partei hatte bei den letzten Wahlen den Einzug ins Parlament verpasst, liegt aber in den Umfragen nun weit vor der DSP.

Wirtschaftsminister Dervis hatte es bislang vermieden, sich parteipolitisch festzulegen. Wenn er weiter mitspielen will, muss er sich nun entscheiden. Denkbar ist, dass er ebenfalls zur CHP geht. Deren Chef Deniz Baykal hat bereits angedeutet, er könne Dervis im Falle eines Wahlsieges den Vortritt als Regierungschef lassen. Das größte Kapital von Dervis sind sein integrer Ruf und seine guten Beziehungen zum IWF – und damit zu den USA.

Von dort kommt auch die stärkste Unterstützung für ihn. Erst gestern reiste eine IWF-Delegation in Ankara an, um über die Auszahlung einer weiteren Tranche eines 16-Milliarden-Dollar-Kredits zu verhandeln. Der IWF ist in der Türkei mit insgesamt 25 Milliarden Dollar engagiert und hat deshalb einen bestimenden Einfluss auf die Richtlinien der türkischen Politik.

Die seit einem Jahr anhaltende schwere Wirtschaftskrise ist längst nicht überwunden. Die Finanzmärkte sind hochnervös und haben auf die Entwicklung der letzten Tage mit einer massiven Flucht in den Dollar reagiert. Die türkische Lira ist auf einem historischen Tiefstand.

Für den größten Teil der türkischen Bevölkerung, die unter der IWF-Politik zunächst schwer zu leiden hat, eröffnet sich jetzt die Gelegenheit zur Abrechnung. Für viele dürften die Islamisten die glaubwürdigste Alternative zum Establishment darstellen, das als durchweg korrupt und von außen gesteuert gilt. Die mächtigen Militärs wollen eine Regierungsbeteiligung der Islamisten oder gar eine Regierungsübernahme auf jeden Fall verhindern.

Wohl selten war in den letzten 20 Jahren eine Wahl in der Türkei deshalb so offen wie die vorzeitigen Neuwahlen, die seit gestern unausweichlich sind. Das schließt auch die Frage ein, ob die neue Regierung von Befürwortern oder Gegnern eines EU-Beitritts gestellt wird.

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