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Wie die Alten, so auch die Jungen

Eine Deutsche und eine Belgierin fordern ein einheitliches Sozialsystem der EU

aus Brüssel BARBARA SCHÄDER und KARIM BEN KHELIFA (Fotos)

„Ich habe das Gefühl, der Jugendkonvent ist nicht wirklich jung.“ Faysa Setila Setila sitzt im Flur eines Brüsseler Kommissionsgebäudes und ist unzufrieden. Unzufrieden und enttäuscht. Den ganzen Nachmittag hat sie in der Arbeitsgruppe „Missionen und Visionen für die EU“ gesessen, zusammen mit rund 50 anderen jungen Menschen aus Europa. Lauter 18- bis 25-Jährigen. Faysa Setila Setila ist 21, also ungefähr in der Mitte. Trotzdem fühlt sie sich nicht richtig zugehörig.

Drinnen haben sie über das Für und Wider eines föderalen Europa gesprochen, über Agrarpolitik, eine Delegierte sprach sogar den Stabilitätspakt an. „Abgehoben und zu politisch“, findet Faysa Setila Setila das. Faysa Setila ist ein Migrantenkind, ihr Vater kommt aus Algerien, die Großeltern mütterlicherseits ebenfalls. Der Vater ist Heizungsinstallateur, die Mutter Hausfrau. Die Tochter ist die Erste in der Familie, die zur Uni geht, bisher hat sie Jura studiert, nächstens steigt sie auf Politik um. Sie hat viele Bekannte, die das nicht können.

„Mit dem alltäglichen Leben junger Leute hat das alles wenig zu tun“, sagt Faysa. Sie ist hergekommen, um über konkrete Probleme zu sprechen. Probleme, die sie von der ehrenamtlichen Arbeit in einem Jugendclub in ihrer Heimatstadt Mons kennt, nur 70 Kilometer von Brüssel entfernt: Arbeitslosigkeit, fehlende Bildungschancen.

Die Mehrzahl der Teilnehmer im Jugendkonvent kennen solche Probleme wohl nur vom Hörensagen. Dafür kennen sie sich mit der EU aus. Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele der Jugendkonvents-Mitglieder einer politischen Jugendorganisation angehören, aber es sind viele. „Es gibt eine breite Variation, aber innerhalb dieser Variation gibt es eine bestimmte Konzentration“, lautet die diplomatische Auskunft eines Sprechers des Erwachsenenkonvents. Der EU-Verfassungskonvent hat die jungen Leute nach Brüssel eingeladen.

Eigentlich war es anders gedacht: „Wir wollten, dass Sie mitten aus dem Alltagsleben Europas zu uns kommen“, sagte Konventspräsident Valéry Giscard d’Estaing den jungen Delegierten in seiner Begrüßungsrede. Da war es allerdings schon zu spät: Ein Teil seiner Kollegen hatte schlicht Mitglieder der Jugendorganisationen ihrer eigenen politischen Parteien für den Jugendkonvent ausgesucht. In der sechsköpfigen belgischen Delegation sind Faysa Setila und eine weitere junge Frau die einzigen ohne Politikerfahrung.

Faysa Setilas flämischer Landsmann Joris Nachtergaele hat einen doppelten Bonus – er ist Politprofi und hat das richtige Studium: einen Master in Europäischem Recht. Ausgewählt hat ihn der belgische Konventsabgeordnete der Nieuw Vlaamse Alliantie, der Partei, in deren Vorstand der 24-Jährige sitzt. Nachtergaele sagt: „Nein, der Auswahlprozess war nicht besonders fair. Andererseits: Für so einen Konvent muss man schon etwas über Europa wissen.“

Auch Joris Nachtergaeles ist die Diskussion zu unkonkret. Seine größte Sorge ist, dass der Jugendkonvent in übergroßer Harmonie mit dem Erwachsenenkonvent endet: „Nach dem Motto: Ja, wir wollen mehr Europa, Yippie! Wir sollten uns mehr Kritik erlauben.“

An ihm soll es nicht liegen. Wer schon im Alter von 13 Jahren politisch aktiv war, mit 24 im Vorstand einer flämisch-nationalistischen, aber linken Partei sitzt und die Position vertritt, dass Flandern zwar unabhängig werden muss, aber verpflichtet ist, die Wallonen finanziell zu unterstützen, der ist gewöhnt, sich unbeliebt zu machen.

Und strategische Allianzen zu knüpfen: In einer Zigarettenpause huscht ein Katalane auf Joris Nachtergaele zu, um ein Treffen zu vereinbaren. Zusammen mit einem Schotten wollen die beiden fordern, dass Regionen mit Verfassungsrang – wie eben Flandern, Katalonien und Schottland, aber auch die Bundesländer – im EU-Ministerrat ein eigenes Stimmrecht erhalten sollten.

Faysa Setilas Anliegen – Bildung und Sozialpolitik – sind weniger auf die EU-Reformdiskussion zugeschnitten, wären dafür aber auch mehrheitsfähiger. Sie könnte sich zum Beispiel mit einer der deutschen Delegierten zusammentun, die für die Schaffung europaweit einheitlicher sozialer Sicherungssysteme plädiert und für mehr Umverteilung durch gemeinsame Steuern.

Aber die beiden jungen Frauen finden keine gemeinsame Sprache, trotz Übersetzung. Faysa Setila hat ihre Gedanken gar nicht erst vorgetragen. „Ich hatte den Eindruck, dass daran kein Interesse besteht.“ Denn als sie sich bei einer anderen Teilnehmerin über die abstrakte Diskussion beschwerte, bekam sie zur Antwort, das sei in der Politik normal – da hat sie nichts mehr gesagt.

Die Belgierin macht eigentlich keinen schüchternen Eindruck. Sie kann sogar sehr lebhaft werden: Wenn sie darüber spricht, dass junge Leute mehr Informationen zur Berufswahl brauchen, und dass Muslime die kulturelle Vielfalt Europas bereichern können. Aber ihre Erfahrung mit Konferenzen beschränkt sich auf solche über den Islam, und die Begegnung mit Menschen aus so vielen anderen Ländern ist ihr ebenfalls neu – Urlaub hat sie bislang nur in Algerien und Frankreich gemacht. Sie findet es spannend, mit Briten, Zyprern oder Dänen zu sprechen.

Viel Zeit dazu bleibt ihr nicht. Zwar sind vier Sitzungstage vorgesehen. Doch der erste Nachmittag ist für ein Lehrvideo über die EU, die Wahl des Präsidiums und Vorstellungsrunden draufgegangen. Von 18.45 bis 20 Uhr hatten die über 50 Kandidaten fürs Präsidium und andere Ämter Zeit, sich je eine Minute lang vorzustellen – natürlich dauerte es länger. Nach dem Abendessen trat die Versammlung dann erneut zu Wahlen zusammen. „Morgens um 1.30 Uhr waren wir fertig“, erzählt Faysa Setila.

Der Mittwoch hat mit Begrüßungsreden begonnen, vier Stück. Es gaben sich die Ehre: Valéry Giscard d’Estaing, 76 Jahre alt. Die Jugendkommissarin Viviane Reding, 51. Der 71-jährige Vorsitzende des Jugendausschusses im Europaparlament, Michel Rocard. Und die jüngste Abgeordnete des eigentlichen Konvents, die 35-jährige Dänin Helle Thorning-Schmidt. Alle sagten sie dasselbe: Der Jugendkonvent dürfe kein punktuelles Ereignis sein, er solle einen langfristigen Prozess auslösen.

Trotzdem hatten die jungen Konventmitglieder dann nur Mittwochnachmittag und Donnerstagmorgen Zeit, um in ihren Arbeitsgruppen Thesenpapiere zu erstellen. In Arbeitsgruppen mit 50 bis 100 Mitgliedern, zu so übergreifenden Themen wie „Missionen und Visionen für die EU“. „Viel zu vage“, findet Setila.

„Chaotisch“, kommentiert Nachtergaele halb amüsiert, halb genervt seine Gruppe „Demokratie und Mitwirkung“. „Das Präsidium hätte konkrete Streitfragen formulieren sollen“, moniert er. Aber anders als Setila weiß er: „Das gehört bei solchen Veranstaltungen eben dazu.“ Immerhin sei die Diskussion kontrovers – sogar eine Gruppe von Antieuropäern habe sich gegründet.

Ein Flame, ein Schotte und ein Katalane wollen Stimmrecht für ihre Region im Rat

Zu denen zählt Joris Nachtergaele sich zwar nicht, aber doch zu den Skeptikern: „Ich bin schon für eine Vertiefung der EU-Integration, aber nicht jetzt. Die EU bewegt sich schneller, als die Leute mithalten können.“ Nicht einmal in Belgien gebe es genug Informationen über die EU.

Das Informationsproblem – das ist vielleicht der einzige Punkt, in dem die Diagnose aller Teilnehmer übereinstimmt: Immer wieder wird die Distanz zwischen EU-Bürgern und Institutionen, zwischen Brüssel und dem eigenen Land beschworen. Faysa Setila aber muss feststellen, dass selbst der Europadiskurs der gleichaltrigen Konventskollegen an ihr vorbeigeht. Trotzdem hofft sie, dass der Jugendkonvent eine Fortsetzung erleben wird – „wo wir dann über konkretere Dinge sprechen“.

Eigentlich greift sie damit genau den Wunsch auf, den eine Vertreterin des Erwachsenenkonvents vor den Jugendlichen geäußert hatte: „Ich würde es begrüßen, wenn ihr Themen aus eurem Leben mitbringen würdet. Wir brauchen von euch eine andere Perspektive von Europa als die, die wir im Konvent liefern können“, sagte die Dänin Thorning-Schmidt.

Beim Jugendkonvent setzten sich die Proeuropäer durch: In der gestern verabschiedeten Abschlusserklärung wird eine „föderale Verfassung“ gefordert, mehr Kompetenzen für das Europaparlament, aber auch eine gemeinsame Sozialpolitik und die Abschaffung der Atomkraft. Bei den Abstimmungen über diese Formulierungen fühlte sich Faysa Setila endlich mal in der Mehrheit.

Nachtergaele hat den Passus durchgesetzt, dass Regionen mit Verfassungsrang an Ministerratssitzungen teilnehmen können, sofern sie von einer Entscheidung betroffen sind. Insgesamt ist er unzufrieden: „Wir haben genau das gesagt, was Europas Elite von uns erwartet.“ Zusammen mit rund 50 anderen Delegierten, darunter auch Setila, hat er deshalb ein Papier unterzeichnet, das den Jugendkonvent als „undemokratisch“ bezeichnet. Einige Delegierte der großen Jugendparteien hätten ihre Ausweise zwischendurch an Außenstehende abgegeben, die dann als Redner aufgetreten wären. Und in seiner Arbeitsgruppe habe das Präsidium nur Argumente zugelassen, die ihm passten. Bei der Abstimmung über das Schlusspapier im Plenum war das zwar nicht der Fall – aber da gab es um die Änderungsanträge am Schluss gar keine Debatte mehr. Weil die Zeit dafür fehlte.

Der Konvent war zu kurz, die Diskussion muss weitergehen – in diesem Punkt herrschte Einigkeit. Faysa Setila hat schon eine Idee, wie sie mehr zur Diskussion um die Zukunft der EU beitragen könnte: Gemeinsam mit anderen will sie einen Fragebogen entwerfen, der an Jugendliche in ganz Europa gehen soll. Um „wirklich junge“ Gedanken nach Brüssel zu tragen.

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