: Die Zeit steht still
Ein gelungenes Familienfest: Der „Special Summer Evening“ mit Paul Simon Open Air in der Berliner Waldbühne
Leicht genervt blickt die Blonde in das weite Rund der Berliner Waldbühne. Am Wetter kann’s nicht liegen: Es ist ein lauer Sommerabend, die Sonne noch nicht untergegangen. Die Blonde ist schätzungsweise zwölf Jahre alt, und was sie nervt, sind ihre Eltern. Die Mutter schnippt wild mit den Fingern. Der Vater hat sich Jeans angezogen, und schabt mit dem Gesäß auf der Bank, es hält ihn kaum auf seinem Platz.
Der Mann, der die Eltern in Verzückung bringt, trägt auch Jeans, dazu ein orangefarbenes T-Shirt und eine Baseballkappe auf dem Kopf: Paul Simon, sechzig Jahre alt. Ein Flower-Power-Opa, denkt sich die Zwölfjährige wohl, warum hab ich da nur mitkommen müssen? Im Moment reißt es doch tatsächlich eine Weißhaarige hoch. Die Oma tanzt. Aber die repräsentiert nur einen Teil des Publikums. Viele Dreißigjährige sind gekommen, die „Simon & Garfunkel“ nie live gesehen haben, vielleicht erst mit Simons bekanntestem Solo-Album „Graceland“ eingestiegen sind. Und am Bierstand sind sogar einige veritable Rocker zu beobachten. Alle sind willkommen. Oder, wie Simon singt: „My face, my race / Don’t matter any more / My cheques, my sex / Accepted at the door.“ Es ist ein Familienfest. Manche haben vor sich eine ganze Picknickgarnitur aufgebaut. Platz dafür ist genügend: Die Waldbühne, sie fasst 22.000 Menschen, ist nur zur Hälfte gefüllt, vielleicht nur zu einem Drittel. Das mag am hohen Eintrittspreis liegen. Zu Simons legendärem „Concert In The Park“ in New York kamen 1991 über 300.000 Menschen, aber das war auch kostenlos. Über 50 Euro musste man jetzt für den „Special Summer Evening“ bezahlen. Die haben sich jedoch gelohnt.
Paul Simon beginnt den Abend mit „Bridge Over Troubled Water“, als zweites Stück spielt er „Graceland“, und so geht es weiter. Man hat den Eindruck, er könne drei Tage lang durchspielen, und nicht nur, weil sein Katalog mit Hits so reichhaltig ausgestattet ist, sondern weil der Mann offensichtlich große Freude daran hat, hier zu spielen.
Ihn einen versierten Tänzer zu nennen wäre etwas übertrieben. Es sind eher Ausfallschritte, die Simon praktiziert, eine Art Ausdruckstanz, mit dem er sich zu den Klängen der eigenen Musik bewegt, den Text seiner Lieder unterstützende Gesten. Dafür tanzt jetzt auch eine wunderschöne junge Frau zwischen den Rängen für sich, und als ob sie es geahnt hätte, hat auch sie, wie Simon, ein orangefarbenes T-Shirt ausgewählt für heute Abend.
Simon trifft jeden Ton, artikuliert und akzentuiert perfekt, ist Dirigent, wendet sich oft vom Publikum ab, um seiner vielköpfigen Band Anweisungen zu geben – jetzt die Percussion, leise, leise, lauter, und da kommen die Bläser. Und wie die kommen.
Als er „Proof“ spielt, ein Stück aus dem Album „Rhythm Of The Saints“, verändert er leicht den Text: „It’s true the tools of love wear down / Time passes / A mind wanders / It seems mindless, but it does“, heißt es im Original, aber Simon singt heute nur: „Time …“, denn die Zeit vergeht nicht, sie steht still. Das Publikum will ihn erst nach drei Zugaben gehen lassen. Da ist die kleine Blonde schon auf dem Schoß ihrer Mutter eingeschlafen. STEFAN KUZMANY
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen