Aufbruch in eine bessere Zeit

Wiederentdeckung eines revolutionären Kleinods: Die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, lang verschmähtes Architekturjuwel der Stadt, feiert 75. Geburtstag – und plötzlich wollen alle mitfeiern. Die Avantgarde soll nun musealisert werden

In den Siebzigerjahren winkte Stuttgart ab. Die Begründung:„Mir hend koi Geld“

von ULLA HANSELMANN

Wer sich im Stuttgarter Hauptbahnhof nach dem Weg zur Weißenhofsiedlung erkundigt, läuft Gefahr, in die schwäbische Wüste geschickt zu werden. Hinauf zu den Kohläckern auf den Fildern beispielsweise. Wenn einer was vom Killesberg murmelt, weiß er schon viel. Weißenhof? Ach ja, natürlich, Sie meinen den Tennisclub Weißenhof!

„Das bekam ich am häufigsten zu hören“, sagt Karin Kirsch. Die Innenarchitektin und Weißenhof-Expertin, die an der Stuttgarter Fachhochschule für Technik Baugeschichte lehrt, hat die Ignoranz vieler Stuttgarter gegenüber ihrem bedeutendsten modernen Architekturdenkmal bei einem Selbstversuch empirisch überprüft. Es scheint, die Schwaben hätten Wichtigeres zu tun, als sich für die weißen Klötzchen droben bei der Kunstakademie zu interessieren.

Allenfalls der Frage, warum damals ausgerechnet die Flachdachfraktion unter den Architekten die besten Bauplätze der ganzen Stadt abgekriegt hatte, dürfte die notorischen Häuslebauer zum Grübeln bringen. Auf der Dachterrrasse von Le Corbusiers Zweifamilienhaus, das in seiner formvollendeten Andersartigkeit wie ein Ufo vom Himmel gefallen scheint, kann der Blick wunderbar auf Wanderung gehen, hinab zum steinernen See der Stadt und wieder hinauf zu den Bergkuppen ringsum.

Friedemann Gschwind vom Stadtplanungsamt drückt es so aus: „Die Weißenhofsiedlung genoss bei den Stuttgartern lange eine bescheidene Wertschätzung.“ Daran hat sich lange Jahre wenig geändert. Dabei entspricht es eigentlich nicht der Art der Schwaben, an Juwelen achtlos vorüberzugehen: Die Weißenhofsiedlung ist ein weltweit einmaliges Museum der frühen Moderne unter freiem Himmel, 1927 als Herzstück der Werkbundausstellung „Die Wohnung“ entstanden. Die internationale Architektur-Avantgarde hatte hier ihre Visitenkarte abgegeben: Mies van der Rohe, Le Corbusier mit seinem Vetter Pierre Jeanneret, Hans Scharoun, Jacobus J. P. Oud, Peter Behrens, Mart Stam, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Hans Poelzig, Bruno und Max Taut, um nur einige der 17 Architekten aus Deutschland, Holland, Frankreich, Belgien, der Schweiz und den Niederlanden zu nennen.

21 Häuser bauten sie, kubisch und für damalige Zeiten revolutionär: „das Haus als Wohnmaschine, befreit vom Ballast sentimentaler Ornamente, schreckhaft noch anzuschauen für den Banausen und ewigen Spießbürger, der alles so haben will, wie es bei Großväterchen war“, wie damals eine Zeitung schrieb. Häuser mit lang gezogenen Fensterbändern, Dachterrassen, flexiblen Grundrissen, die meisten in der damals neuartigen Stahlskelettbauweise errichtet. 61 Wohnungen für den „modernen Großstadtmenschen“ und nicht, wie es vielfach heißt, fürs Existenzminimum entstanden. Sie sollten sparsam, einfach, praktisch und hygienisch sein und der Welt den Aufbruch der Baukunst in ein neues, besseres Zeitalter von Licht, Luft und Sonne beweisen.

„… der Kampf um die Neue Wohnung [ist] nur ein Glied in dem großen Kampf um neue Lebensformen“, schrieb Mies van der Rohe, der künstlerische Leiter der Ausstellung. Etlichen seiner Kollegen war das soziale Ansinnen indes eher schnuppe, sie nutzten die Freiheit einer Bauausstellung, um sich mal richtig auszutoben. Bruno Taut etwa ließ seinen Beitrag so bunt wie eine Waschmittelpackung anmalen. Den Krieg hat das Haus nicht überlebt; weitere neun Gebäude fielen den Bomben oder Abrissen zum Opfer.

Für Japaner, Australier, US-Amerikaner, für Architektur-Interessierte aus den europäischen Ausland indes sind die elf erhaltenen, wenn auch im Innern oft stark veränderten Monumente des neuen Bauens immer schon eine Reise wert gewesen. Und natürlich auch für Baukunst-Interessierte hierzulande ist das Avantgarde-Quartier eine Pflichtstation. Mehr als 30.000 Besucher zählt der Verein der Freunde der Weißenhofsiedlung im Jahresschnitt, doch in diesem Jahr sei der Andrang besonders groß, so die Bauhistorikerin Anja Krämer, die regelmäßig durch das berühmt-berüchtigte Zeugnis der weißen Moderne führt: Am 23. Juli ist 75. Geburtstag.

Bislang allerdings wurde der werte Jubilar seinen Gästen dargeboten wie eine altbackene Semmel: Keine Wegweiser im Stadtzentrum zeigte, wo’s langgeht; lediglich ein mickriger Zeitungskiosk markiert das Entree zu den Stuttgarter Hinterlassenschaften einiger der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Kein Café, lediglich eine Infotafel und ein nur sehr reduziert geöffnetes Info-Centrum im Mies-van-der-Rohe-Bau, das muss genügen. Die Stadt hat es lange den Ehrenamtlichen vom 1977 gegründeten Weißenhof-Verein überlassen, sich der Pflege des Moderne-Manifests anzunehmen. Erst in den Achtzigern ließ man auf dessen Betreiben die zum Teil arg heruntergekommenen Gebäude sanieren.

Es wohnen im Übrigen auch keine Designer, Architekten oder Medienmenschen in der Siedlung, wie die Toplage und der hohe Stilfaktor der Adresse nahe legen könnte. In der Architekturikone sind Dienstwohnungen des Bundes, der in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs Eigentümer ist, untergebracht. Als der in den Siebzigerjahren die Siedlung zum Verkauf anbot, sei Stuttgart nicht interessiert gewesen, berichtet Peter Conradi, Präsident der Bundesarchitektenkammer. Die Begründung: „Mir hend koi Geld.“

Aber nun, im Jubiläumsjahr, soll alles ganz anders werden. Die Stadt Stuttgart, Architekten- sowie andere Fachverbände und -institutionen haben einen wahren Veranstaltungsmarathon mit Vortragsreihen, Symposien und Ausstellungen rund um das Thema auf die Beine gestellt. Höhepunkt stellen nun, kurz vor dem Jubiläumstermin, ein Internationales Architekturforum von 19. bis 21. Juli dar sowie zwei von Karin Kirsch kuratierte Ausstellungen, welche die Galerie der Stadt Stuttgart zusammen mit dem Institut für Auslandsbeziehungen präsentiert. Sogar die Industrie zeigt sich engagiert: Für eine der beiden Schauen hat IBM ein digitales Informationssystem entwickelt, das einen virtuellen Rundgang durch die Siedlung erlaubt.

„Und natürlich sollen auch endlich Hinweisschilder her“, ergänzt Friedemann Gschwind. Doch das ist nun wirklich ein winziges Detail im Gegensatz zu dem big deal, an dem er schon seit 2001 als Projektleiter tüftelt: Das Doppelhaus von Le Corbusier in der Rathenaustraße 1–3 soll ab 2004 den Weißenhof-Besucher als Informations- und Dokumentationszentrum offen stehen – und damit den wieder gefundenen Respekt auch formal artikulieren. Die „Revitalisierung“ und Sanierung übernimmt die Wüstenrot-Stiftung, die sich schon mehrfach mit der Instandsetzung von Baudenkmälern der Moderne profilierte.

Doch nicht genug der Zuckerstückchen fürs Geburtstagskind. So soll auch gleich noch ein Architekturwettbewerb für ein Bistro her, um das etwas schäbige Entree in einen würdigen Auftakt zum Siedlungsrückgang zu verwandeln. „Wir gehen voll in die Offensive“ – mit der Wiederentdeckung der Weißenhofsiedlung nimmt Klaus Lindemann, Chef von Stuttgart-Marketing, den Architekturtourismus im großen Stil ins Visier, Baustellentrips zu künftigen Großprojekten wie etwa die neue Messe oder Stuttgart 21 inklusive.

Aber bei aller Sympathie für südwestdeutsche Behäbigkeit: Das bisherige Mauerblümchen-Schicksal des Weißenhofs muss vor allem deshalb verwundern, weil gerade unter Architekten Stuttgart einen außergewöhnlichen Ruf genießt: dank seiner renommierten Hochschulen, dank der hohen Dichte an Architekturprominenz in der Stadt. Wer da nachbohrt, bekommt häufig als Antwort eher diffuse Ahnungen als handfeste Erklärungen serviert. Weißenhof-Expertin Karin Kirsch indes nennt das Kind beim Namen: „Dieses Schattendasein hat mit den Nachwirkungen des Dritten Reichs zu tun.“

Die Nationalsozialisten hatten es blendend verstanden, das Unbehagen der Bevölkerung gegenüber dem radikal neuen Baustil in Abscheu zu verwandeln. Sie erklärten die Siedlung 1933 zum „Schandfleck“ Stuttgarts und hießen die Architekten „Kulturbolschewisten“. Damit zimmerten die Nazis Vorurteile und Emotionen fest – die allerdings schon von Anfang bestanden. Der Gemeinderat hatte sich gehörig gefetzt, bis er schließlich doch den Mut aufbrachte, die 1.450.000 Reichsmark für den Bau der Siedlung zu bewilligen. Vor allem die Stuttgarter Schule, in der sich konservativere Architekten sammelten, lieferten den Gegnern Nahrung. Für Paul Bonatz glich Mies’ Bebauungsplan einem „Vorort Jerusalems“, für Paul Schmitthenner einem „italienischen Bergnest“. Eine Postkarte von 1932 zeigt in einer Fotocollage den Weißenhof als Araberdorf mit fliegenden Händlern, Kamelen und Löwen.

Die regionalistische Gegenvision zu den „eingequetschten Wohnmaschinen“ der jungen Wilden ist nur ein paar Schritte entfernt vom Weißenhof zu finden: die 1933 unter der Leitung von Schmitthenner entstandene Kochenhofsiedlung. Anheimelnde Satteldächer, Holzbauweise, schmucke Fensterläden – das war vielen Stuttgartern ungemein sympathischer.

Der Kampf zwischen Traditionalisten und Modernen setzte sich in Stuttgart auch nach dem Krieg fort – auch dann wurden die unterschiedlichen Architekturhaltungen noch Opfer politischer Gesinnungshuberei. Die Zeiten scheinen nun endgültig vorbei. „Es hat alles seine Zeit gebraucht“, sagt Karin Kirsch. In Zukunft wird der neugierige Besucher, wenn er nach dem Weg zur Weißenhofsiedlung fragt, sicherlich nicht mehr in die Wüste geschickt. Das ist doch was.

Infos: www.weissenhof.de; www.weissenhofsiedlung.de; www.architekturtreff.de; Kongress: „Von der Moderne zur europäischen Stadt“: www.weissenhof-2002.de, www.uia-berlin2002.de