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bernhard pötter über Kinder Der Kandidat im Kinderzimmer

Wer hat die Taube überfahren? Am besten ist die Antwort, wenn der Showmaster sie selber gibt

Ganz ehrlich: Ich hätte Tensing Norgay gewusst. Die Frage, mit der die erste Million bei „Wer wird Millionär?“ über den Tisch ging, war nicht schwer, wenn man als Junge die Bücher über die Erstbesteigung des Mount Everest und den braven Helfer von Edmund Hillary gelesen hatte. Geradezu lachhaft, dafür eine Million Mark auszuloben. Dafür hätte ich mich aber vielleicht in einer 5.000-Mark-Frage verheddert.

Etwa so einer: Wer war der Gegenspieler von „…“ (sagt mir nichts) in dem Film „…“ (sagt mir nichts) mit dem markanten Sprachfehler (??): „…“ (sagt mir nichts), „…“ (sagt mir einfach nichts), „…“ (sagt mir gar nichts) oder „…“ (sagt mir überhaupt nichts).

„Na?“ lächelt Günther Jauch und lehnt sich zurück. „Wenn Sie es nicht wissen, können Sie ja das Publikum fragen.“

Das hatte ich gerade vor. Aber Anna macht „ssschtt!“ und starrt auf den Schirm. Sie klebt am Fernseher, wenn Jauch seine Fragen stellt. Dass er bei „stern tv“ unterwürfig die albernsten Luxusschlitten vorstellt, bei den hirntotesten TV-Galas in der ersten Reihe sitzt oder den Regenwald per Bierkonsum retten will, ist ihr egal. Aber wenn er so tut, als habe er das ganze Wissen der abendländischen Kultur in seinem Bubikopf gespeichert und werde nicht von einem Computer gefüttert, dann ist sie hingerissen. Sie schaut mich mit diesem „Ich liebe dich, aber du störst gerade“-Blick an.

Da hilft nur der Gang ins Kinderzimmer. Jonas wuselt auf dem Hochbett herum und wartet auf das Einschlafprogramm. Heute mal kein Buch. Heute mal ein Quiz. Jonas darf Fragen stellen, die ich nach bestem Wissen und Gewissen beantworte. Jauch ist dagegen ein Kinderspiel.

„Papa, warum haben Leute Haare?“ Das geht ja noch. Reste vom Fell unserer Vorfahren. „Warum macht die Lampe solche Schatten?“, „Hat die Feuerwehr Drehleitern, um Flugzeuge zu reparieren?“, „Wer hat die Taube auf der Straße überfahren?“, „Warum darf ich nicht im Kinderzimmer pinkeln?“ Je länger die Fragestunde dauert, desto lebhafter wird Jonas, desto müder werde ich: Sind es erst noch weitschweifende Erklärungen über die Natur der Welt, wird mein Denken im Kinderbett immer langsamer, meine Sprache immer schleppender: „Hm? Äh, ja, ich glaube schon, nein vielleicht doch nicht, das kann ich nicht so genau sagen“, seufze ich aus meinen Kissen.

Warum sind alle nur so quizbesessen? Kein Fernsehsender kommt mehr ohne Fragefüchse aus. „Die Leute wollen zeigen, wie klug sie sind“, sagte Anna neulich in einer Werbepause. Aber dann sollten viele Kandidaten besser zu Hause bleiben. „Sie wollen Geld verdienen.“ Dann sollten sie besser an den Devisenmärkten gegen den Dollar spekulieren. „Außerdem macht das doch alle klüger, ich weiß nicht, was du hast“, sagte Anna und stellte den Ton wieder an.

Kommt über diese öffentlichen Verhöre das Bildungsbürgertum zurück? Die Quizsendung als Volkserziehung, die Anwort auf die Pisa-Studie? Aber wahrscheinlich sind die Gründe viel profaner: So wie jede anständige deutsche Couchkartoffel der bessere Bundestrainer ist, sind wir auf dem Sofa natürlich immer klüger als die Kandidaten im Fernsehen. Und die Sender denken, sie halten uns mit nervenzerfetzender Hochspannung billig und quotenträchtig wach.

Das Problem dabei: Zumindest bei mir bleibt nichts hängen. Ich weiß schon um 20.16 Uhr nicht mehr, welche Nachrichten ich in der „Tagesschau“ gesehen habe und wie das Wetter wird. Und die hunderte von Fragen bei „Wer wird Millionär“ haben sich mir auch nicht länger eingeprägt. Alles weg.

Ganz anders bei den Fragen von Jonas. Der lässt sich nämlich von den Faxen des Moderators nicht so zufrieden stellen wie andere Mitglieder unserer Familie. Und wir haben alle etwas von seiner Wissbegierde. Meine Dissertation über sein „Warum werden aus Kaulquappen Frösche, aber aus Affenbabys keine Menschen?“ werde ich demnächst an der Biologischen Fakultät der Freien Universität Berlin einreichen.

Vielleicht bin ich bei der Inquisition im Kinderbett doch ein bisschen eingenickt. Ich schrecke hoch und höre gerade noch „… und warum ist das so?“

Keine Ahnung. Und wie war noch gleich die Frage?

Jonas guckt erwartungsvoll. Mein Hirn ist voller Nebel. Da fällt mir die Killer-Antwort ein: „Was meinst denn du? Warum ist das so?“ Und es sprudelt aus ihm heraus, immer mehr, immer weiter, immer leiser, immer undeutlicher, immer schläfriger …

Ich schleiche mich aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer rollt Günther Jauch mit den Augen, weil die Kandidatin partout ihren Joker setzen will. Anna schläft friedlich auf dem Sofa.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de

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