Ein heldenhaftes Leben

Von Russland nach New York und zurück, hinein in die sibirischen Alumiumkriege: Über Leben und Werk des national-bolschewistischen Arbeiterdichters Eduard Limonow aus Charkow nebst Vorgeschichte seines Buches „Jagd auf Bikow“

Besonders bei den russischen Jugendlichen kam er gut an Die Zeiten der Kohlsuppen auf dem Balkon waren vorbei

von WLADIMIR KAMINER

Vor 20 Jahren war der Schriftsteller Limonow in Russland sehr populär. Er war einer der ersten Russen seiner Generation, die Amerika in den Augen der Intellektuellen entlarvt hatten.

Der junge Limonow war Anfang der Siebzigerjahre aus der Sowjetunion, dem „Reich des Bösen“, ausgewandert und landete zusammen mit seiner schönen Frau auf Umwegen in New York. Dort wohnte der junge Dichter mehrere Jahre in einem Wohnheim, nackend kochte er seine Kohlsuppe auf dem Balkon, stritt sich mit Puertorikanern und anderen Minderheiten und schuftete mal als Möbelträger und mal als Tellerwäscher bei McDonald’s, um sich über Wasser zu halten. Irgendwann verließ ihn seine schöne Frau, seine einzigen Freunde waren ein paar Penner und Psychopathen, die genau wie er von der Stadt New York verschluckt worden waren.

In diesem amerikanischen Alptraum schrieb Limonow seinen ersten Roman: „Fuck off, Amerika“ – eine bittere Abrechnung mit dem Land der Träume. Der Held des Romans läuft durch die nächtlichen Straßen und schreit vor Einsamkeit und Frust: „Nimm mich, Amerika! Was soll ich noch tun, damit du mich endlich bemerkst? Ich bin es doch, Limonow!“ In jener Nacht wird er von einem großen schwarzen Mann in einem Sandkasten vergewaltigt.

In Amerika fand Limonow keinen Verleger für sein Manuskript. In Russland wurde es zu einem großen Erfolg. Besonders bei den russischen Jugendlichen kam Limonow gut an. Obwohl sie nie in Amerika gewesen waren, konnten sie sich mit dem Helden identifizieren. In kürzester Zeit wurde Limonow berühmt, sein Buch verkaufte sich gut. Dann kehrte er nach Russland zurück. Als neues Enfant terrible der russischen Literatur erntete er allgemeinen Respekt – und wusste nichts damit anzufangen.

Am besten gefiel Limonow die Rolle des einsamen Helden, des nach Anerkennung schreienden, ausgestoßenen Engels mit dämonischem Blick. Es gelang ihm aber immer weniger, diese Rolle auszufüllen. Die Zeiten der Kohlsuppen auf dem Balkon waren vorbei. Limonow wurde immer dicker. Frustriert ging er wieder auf Reisen und besuchte seinen ehemaligen Unterschlupf in New York. Von dort war er früher fast jede Nacht durch die gefährlichsten Abschnitte des Central Park gelaufen und hatte vor nichts Angst gehabt, weil er nichts zu verlieren hatte. Nur ein scharfes Messer steckte in seiner Hosentasche. Er wurde dort jedoch niemals angegriffen.

Nun, 29 Jahre später, unternahm er noch einmal einen Nachtspaziergang durch den Central Park. Er wollte es sich beweisen. An der Stelle des Messers befand sich nun eine Brieftasche. In Sekundenschnelle wurde Limonow von irgendwelchen dunklen Nachtgestalten zusammengeschlagen und ausgeraubt. Er kehrte daraufhin wieder nach Russland zurück und suchte sich dort neue Aufgaben.

Er ging in die Politik, gründete die National-Bolschewistische Partei und heiratete mehrmals. Mit seinen Anhängern, romantisch eingestellten jungen Männern, reiste er überall hin, wo es Krieg gab – nach Serbien, Mittelasien und in den Kaukasus. Gleichzeitig schrieb er weiter Texte und sogar Gedichte, obwohl er seinen Anhängern immer wieder zu verstehen gab, die Literatur interessiere ihn nur noch als Möglichkeit, um die Partei zu finanzieren.

Als Politiker zeigte sich der Schriftsteller Limonow ultraradikal. „Die Jungen und Rücksichtslosen erobern die Welt, unser Hass ist unsere beste Waffe im Kampf gegen die verlogene kapitalistische Gesellschaft!“, skandierte er auf Kundgebungen und Parteiversammlungen, die aber schlecht besucht waren. Die Erniedrigten und Beleidigten Russlands – die Bauern, Rentner und Bergarbeiter – trauten Limonow nicht. Bei den letzten Regionalwahlen bekam er 0,0015 Prozent der Stimmen. Er heiratete zum fünften Mal – seine neue Frau war dreißig Jahre jünger als er, der mittlerweile auf die sechzig zuging. Er wollte für immer der junge Eduard aus dem Buch „Fuck off, Amerika“ bleiben und ein heldenhaftes Leben führen, konnte aber seinem eigenen Werk immer weniger gerecht werden. Seine Odyssee endete jetzt erst einmal ziemlich dramatisch – im Knast.

Er wollte sein neues – das 27. – Buch über den Geschäftsmann Anatoli Bikow schreiben, den ehemaligen Generaldirektor des größten Aluminiumkombinats von Sibirien. In ihm sah Limonow die Zukunft Russlands. Der Schriftsteller fuhr nach Krasnojarsk, um über seinen Helden zu recherchieren. In dem wildkapitalistischen Giftnebel des russischen Geschäftslebens war Bikow zweifelsohne für viele ein heller Stern – eine echte sibirische Legende. Er fing spät an. Die spontane wirtschaftliche Privatisierung in Russland Anfang der Neunzigerjahre war schnell in einen Krieg ausgeartet: Auf der einen Seite waren es die ehemaligen Betriebsdirektoren, die ihre eigenen Fabriken privatisieren wollten und sich dafür selbst Kredite bewilligten, sowie auch die regionalen Parteibonzen und Polizeichefs, die alle Businessmen werden wollten. Auf der anderen Seite kamen die Kriminellen – „Blauhäute“ in Russland genannt wegen ihrer Ganzkörper-Tätowierungen. Die beiden Parteien verknäulten sich ineinander. Im sibirischen Krasnojarsk brach 1991/92 der erste Aluminiumkrieg aus – es ging um hunderte von Millionen Dollar, denn Aluminium war ein Exportartikel der Extraklasse.

Anatoli Bikow blieb damals zunächst noch außen vor. Er arbeitete als Sportlehrer in einer Schule seiner Heimatstadt Nasarowo, die eigentlich nur ein Kohlenschacht war – in der Nähe von Krasnojarsk. Dort kümmerte er sich um die Jugendlichen und organisierte einen Boxklub, damit sie nicht beschäftigungslos auf der Straße herumhingen. Viele seiner Freunde fuhren regelmäßig nach Krasnojarsk, um dort Geschäfte zu machen, er aber blieb Sportlehrer.

Einmal beklagten sich ein paar Kumpel bei ihm über all die Probleme, die ihnen in der großen Stadt zu schaffen machten – die Blauhäute wollten partout Schutzgelder aus ihnen rauspressen. Bikow versprach zu helfen. Er fuhr mit seinen Boxjungs nach Krasnojarsk, traf sich mit den Kriminellen und klärte sie darüber auf, dass sie keine Chance gegen seine durchtrainierte Truppe hätten. Danach mieden diese Bikows Freunde nach Möglichkeit. Wenig später erzählte schon jeder zweite Geschäftsmann in der Stadt stolz, er arbeite mit Bikow zusammen.

Bikow zog nach Krasnojarsk. Die Miliz und die Kriminellen mussten ihn notgedrungen in ihre Gesellschaft integrieren. Sie wählten ihn sogar zu ihrem Schiedsrichter. Doch mit dieser Rolle gab sich der ehemalige Sportlehrer bald nicht mehr zufrieden, nachdem er begriffen hatte, dass die Direktoren und Milizchefs genau wie die Blauhäute sich nur um ihre Gewinne sorgten. „Warum müssen es immer nur solche Leute sein, die in unserer Region das Sagen haben?“, dachte sich Bikow. Er baute seine Boxerschule in Krasnojarsk weiter aus und stieg selbst ins Aluminiumgeschäft ein.

Es begann ein zweiter Aluminiumkrieg: Diesmal schienen die sibirischen Kriminellen die Verlierer zu sein, einer nach dem anderen wurde ermordet: Den „Schnurrbart“ erwischte es vor seinem Haus, der „Schrille“ wurde mit seinem Mercedes in die Luft gesprengt, der „Gestreifte“ wurde im Bett erstochen. Innerhalb von einigen Monaten waren zwei Dutzend kriminelle Autoritäten weg vom Fenster. Nur einige ganz große, wie Pascha Lichtmusik, überlebten.

In der Stadt war man fest der Meinung, dies alles wäre allein Bikows Verdienst. Doch er selbst sagte dazu nichts. Aber schon bald hatte er genügend Aktien des Aluminiumkombinats in seinem Besitz, um Vorsitzender des Aufsichtsrates zu werden. Gleich anschließend verscheuchte er auch noch die amerikanischen Investoren, alles ehemalige Russen, die das Kombinat kaufen wollten. So wurde er zum Alleinherrscher von Krasnojarsk und zum Robin Hood Sibiriens.

Als Erstes baute Bikow in Krasnojarsk eine orthodoxe Kirche sowie eine Moschee und eine Synagoge, dann eröffnete er ein neues Waisenhaus, eine Schule für begabte Kinder, mehrere Sportvereine und fing an, den Arbeitern im Aluminiumkombinat anständige Löhne zu zahlen. Als Bikow dann noch in die Politik ging und seine Kandidatur für das russische Abgeordnetenhaus anmeldete, wunderte sich keiner mehr, dass er gleich auf Anhieb 75 Prozent der Stimmen bekam. Damit war er aber auch den politischen Machtinhabern in Sibirien nicht mehr geheuer. Als gemunkelt wurde, dass Bikow angeblich die letzte Blauhaut in der Stadt – Pascha Lichtmusik – umzulegen beabsichtige, stellten sie ihm eine Falle. Obwohl es keinerlei Beweise gab, wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Bikow flüchtete nach Ungarn, dort wurde er verhaftet und nach Moskau ausgeliefert. Man steckte ihn in Untersuchungshaft.

Bis dahin hatte der Schriftsteller Limonow seine Geschichte in Sibirien genau recherchiert. Als das Buch gerade fertig war, wurde er verhaftet: wegen Aufrufs zum bewaffneten Widerstand. Außerdem sollte er in Sibirien versucht haben, Luft-Boden-Raketen von der chinesischen Volksarmee zu erwerben.

Wenig später saß er schon mit dem Geschäftsmann Bikow zusammen im selben Knast. Die beiden etwa gleichaltrigen Männer sahen sich regelmäßig bei ihren Spaziergängen im Hof und redeten miteinander, wie Moskauer Journalisten herausfanden. Pascha Lichtmusik lebte derweil draußen weiter munter vor sich hin und genoss das Zeugenschutzprogramm.

Am 8. Juli begann am Bezirksgericht Saratow der Prozess gegen Limonow und fünf Aktivisten seiner Partei. Und in Sibirien ist längst der dritte Aluminiumkrieg ausgebrochen.

Eduard Limonows Buch „Jagd auf Bikow“ ist im Moskauer Verlag Limbuspress erschienen und kostet 57 Rubel