: Flora in Nachbars Garten
Oft wird behauptet, Berlin sei eine besonders wald- und grünflächenreiche Stadt. Doch in Wirklichkeit holen sich die meisten Menschen ihre Liebe zur Natur als Zierpflanze nach Hause. So wachsen wilde Beete in Fenstern am Rande kopfsteingepflasterter Straßen. Ein Plädoyer für den Blumenkasten
von DETLEF KUHLBRODT
Wenn man in Berlin eine längere Stadtrundfahrt macht, erfährt man, dass Berlin die waldreichste Stadt Deutschlands sei, dass es hier mehr Brücken gebe als in Venedig oder Amsterdam und dass Berlin eine der wasserreichsten Städte überhaupt sei. Das sind so die angeberischen Behauptungen, die streng genommen stimmen, deren faktische Wahrheit vielen Bewohnern jedoch eher wie Spott und Hohn klingen und bestenfalls zum Eindruckschinden bei Besuchern taugen, die aus Urwäldern, Feldern und Nebenstädten für ein paar Tage in die Stadt geflohen sind.
Denn die Flüsse und Kanäle, über die Berlin verfügen mag, schlängeln sich eher unzugänglich an Industrieanlagen entlang, der sogenannte Wald ist ein bisschen (Grunewald) oder als Enklave in Brandenburg wie der größte Teil der Berliner Forsten sehr weit draußen (eswede) und spielt im Alltag keine Rolle. Nur an Sonn- und Feiertagen pilgert man gern zum Jagdschloss Grunewald, das eines der schönsten Museen der Stadt ist. Überhaupt gibt es festtägliche und alltägliche Versuche, die Stadt grüner zu machen. Zu den festtäglichen Bemühungen zählt die Gemüseschlacht zwischen Kreuzberger und Friedrichshainer Punks, die meist im Juni stattfindet; in den Mühen der Ebene stellen sich die innerstädtischen Bewohner Blumenkästen vor die Fenster. Zumindest manche.
Während Geranien, Petunien, Fuchsien und all die anderen farbenfrohen Freunde in kleineren Städten, reicheren Gegenden, doch irgendwie spießig wirken, ist es hier anders. Der Blumenschmuck am Fenster enger, kopfsteinbepflasterter Großstadtstraßen ist wie ein freundliches Wort, das man Passanten und vor allem auch denen, die auf der anderen Straßenseite wohnen, zuwirft, um ihr Gemüt ein wenig aufzuhellen. Finde ich. Und gleichzeitig Selbstermahnung zum Fröhlichsein.
Das ist natürlich etwas allgemein und vernachlässigt das Besondere, in dem man so handelt und jedes Jahr aufs Neue unzufrieden ist. Am Anfang muss der Balkonlose Blumenkastenkonstruktionen entwerfen und anbringen, weil es die nicht zu kaufen gibt. Dann wird entschieden, ob man früh säen oder später fertige Blumen kaufen möchte, ob man die Gras-Samen verwendet, die die FDP-Jugend, deren schleswig-holsteinischer Landesverband unter der Adresse „www.bekifft-ficken.de“ zu erreichen ist, bei der letzten Hanfparade verteilte. Oder doch lieber bunte Blumen.
Vor allem neonbunte Blumen drängen in diesem Jahr auf den Markt. Sonnenblumen sind zwar immer okay, wie das „Croissant natur“, für das man sich statt „mit Schoko“ oder „mit Butter“ gemeinhin beim Bäcker entscheidet; sie haben aber den Nachteil, dass sich später der Wind in ihnen verfangen kann, wenn sie so groß geworden sind. Dann fliegt der sorgfältig ausgedachte Blumenkasten herunter, erschlägt die Passanten, und keiner will’s gewesen sein. Manche haben grüne Hände, wie der polnische Dokumentarfilmer Kornel Miglus, und verschenken gern Gummibaumsetzlinge; andere finden Zitronenmelisse besser. Und am Netz der Edeka-Orangen hängt ein Zettel, auf dem steht „LICHT ZUM VERZEHR GEEIGNET“. Die Losung, die Gärtner Pötschke in seinem Gartenkalender „Grüner Wink“ für den Tag herausgegeben hat, lautet dagegen: „Junger Freund, vergiss das nicht / Alle Pflanzen brauchen Licht.“
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