: Ein Mann will nach unten
Das Klischee des wilden Mannes entwickeln, um es dann zu zerschlagen: Das Biopic „Piñero“ erzählt von Miguel Piñero, dem Dichter, Performer und Stückeschreiber puerto-ricanischer Herkunft, der das gesprochene Wort nach New York brachte
von SUSANNE MESSMER
Miguel Piñero ist ein kerniger Mann. Obwohl man ihn nur auf der Leinwand sieht, riecht man förmlich die Fahne und die Essensreste im Bart. Benjamin Bratt, dem man zuletzt in „Traffic“ begegnete, spielt den Macho glaubhaft: Wie er sich in irgendwelchen Bruchbuden New Yorks einen Schuss nach dem anderen setzt und sich hin und wieder von seinen Groupies einen blasen lässt.
Das war also ein Wilder, der Miguel Piñero, denkt man leicht gelangweilt. Und gerade will man es sich gemütlich machen mit diesem vergammelten Rollenklischee, da passieren verwirrende Dinge. Miguel Piñero verliebt sich in einen Mann, wird von ihm verraten und verkauft und läuft deshalb Amok. Sein Chauvinismus zerbröselt zu Unsicherheit und Angst. Als er schließlich erfährt, wie krank er ist – Miguel Piñero starb 1988, mit 42 Jahren, an Leberzirrhose –, kommt es zu einer Konfrontation mit einer Dragqueen, bei der er vollends die Fassung verliert.
Diese Dragqueen will fast gar nichts von ihm, nur das Skript zu ihrer Show soll er schreiben. Doch allein ihre physische Präsenz scheint auszureichen, auch noch die letzten Reste seines zerknitterten Selbsts in Frage zu stellen – bis er halb im Spaß auf sie losgeht und ihr androht, ihr die Leber, die er dringend braucht, herauszuschneiden.
Miguel Piñero, einer der ersten puerto-ricanischen Schriftsteller in Amerika, die berühmt wurden, spielte widersprüchliche Rollen – das bestätigen seine Stücke und seine Gedichte, und das fängt auch Leon Ichasos Biopic „Piñero“ ein. Er mimte den Brutalen und den Verletzlichen, bot dem weißen Nordamerika Paroli und war gleichzeitig fasziniert von der Figur der lustvollen Unterwerfung.
Geboren 1946 in Puerto Rico, emigrierte Piñero früh mit seinen Eltern nach New York und wuchs in den Straßen der Lower East Side auf. In einigen Rückblenden reißt der Film an, wie er zum Anführer einer der gefürchtetsten Gangs heranwuchs, wie er mit 13 zum ersten Mal wegen Diebstahls saß. Die Filmhandlung setzt ein, als Piñero 24 ist und im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing zu schreiben beginnt.
In Sing Sing arbeitet Miguel Piñero an seinem Stück „Short Eyes“, das später am Broadway Furore machen wird. 1974 – auch das zeigt der Film – gründet er mit Miguel Algarin das „Nuyorican Cafe“, das noch heute als die wichtigste der über neunzig New Yorker Bühnen gilt, auf denen Spoken Word Poetry, so genannte Poetry Slams, stattfinden. Seine Performances machten ihn zu einem Pionier der Nuyorican Literature (Nuyorican ist eine Kontamination von New York und Puerto Rican). Seinen emigrierten Landsleuten gilt er noch heute als Ikone.
Piñero entwickelte eine Ästhetik der Straße aus der Sicht des Outlaws und bisexuellen Abenteurers, des Junkies, Dealers und Diebs. Er zelebrierte seinen Drogenkonsum, kultivierte seinen Zorn gegen das Establishment, den Rassismus und Kolonialismus Nordamerikas. Neben Vorläufern wie den Dadaisten oder den Beatniks haben seine Performances einer literarischen Bewegung den Weg geebnet, die die Sprechweisen von Rap geprägt und die Literatur ins Nachtleben geholt hat.
Der Film verweist mit Nachdruck darauf, dass die Wiederentdeckung des gesprochenen Worts eine Leistung minoritärer Communities war. Die zielten auf gemeinschaftliche Sinnstiftung, wie sie sich beim Lesen eines Buchs nicht herstellt. Schon im Nuyorican Cafe galt, dass sich der Lesende einem intervenierenden Publikum stellen musste. Piñero und seinen Mitstreitern ging es um das, worum es der Slam Poetry noch heute geht: um Spontaneität und Plastizität, Alltag und Gegenwart und um das Material der Stimme, um Lautmalerei, Kakofonie, Reim und Wiederholung.
Das sind die intensivsten Momente im Film: Wie Benjamin Bratt Piñero als großartigen Performer darstellt, wie er seine Zuschauer geradezu einlullt mit dem melodiösen Singsang seiner selten abbrechenden Rede. „NYC Blues; Big time time hard on on me blues; New York City hard sunday morning blues; Junkie waking up; bones ache trying to shake“, liest er eines seiner schönsten Gedichte, und es wird fassbar: Piñero orientierte sich an den oralen Erzähltechniken der afroamerikanischen Literatur, er übernahm die Strukturen von Folk Tales und die Erzähltechnik der Griots, die Rhetorik des schwarzen Predigers, des Rhythmus von Gospel und Blues, von Dialekt und Slang. Die afroamerikanische Technik des Signifyings, dieser Mischung aus Kraftmeierei, spielerischem Umgang mit Text, Ironisierung von Machtstrukturen und der eigenen Person, bot Piñero einen Resonanzboden für die Ambivalenz, die ihn ausmachte.
Nicht nur im Film, auch in seiner Literatur waren Miguel Piñeros Helden Prostituierte, Zuhälter, Kriminelle und immer wieder Homosexuelle, die in der gesamten nuyoricanischen Literatur auffallend oft auftauchen und immer ironisch und zärtlich zugleich beschrieben werden. „Short Eyes“ zum Beispiel erzählt nicht nur die brutale Geschichte einer multikulturellen Gruppe Gefangener, die einen Mitgefangenen, den Vergewaltiger eines Kindes, hinrichten.
Dieses Stück ist schillernd wie Piñero selbst, es berichtet auch von Cupcakes, einem hübschen puerto-ricanischen Jungen, der durch die Performanz von Machismo Autorität zu gewinnen versucht und scheitert. Die Struktur der Unterwerfung verwandelt er in Begehren. Er wird vergewaltigt und entwickelt homoerotische Bindungen. Der Schwule ist in „Short Eyes“ ebenso wenig der monströse Andere wie im Film „Piñero“, er ist der nahe Andere, der den maroden Zustand der puerto-ricanischen Männlichkeit spiegelt und verstärkt. Dies gilt für viele Stücke und Gedichte von puerto-ricanischen Autoren der zweiten Generation in den USA.
Diese in den USA aufgewachsenen Schriftsteller haben die Suche nach einem authentischen Selbst, einer nationalen Identität längst aufgegeben. Stattdessen thematisierten sie eine Komplizenschaft zwischen den Kolonisierten und den Kolonialherren. Der eine bewahrt seine Identität in der des anderen – eine Konstellation, die Frantz Fanon auch als „dualen Narzissmus“ beschrieben hat. Dieser „innere Kolonialismus“ habe zur Folge, so Fanon, dass der karibische Mann sich dem weißen unaufhörlich anbiedern müsse, weil er von den Weißen nicht als ernst zu nehmende Gefahr wahrgenommen werde. Zufall oder nicht: Es gibt im Film Anspielungen, Piñero sei als Kind von seinem Vater missbraucht worden, dem Vater, dem Repräsentanten der symbolischen Ordnung, der in puerto-ricanischen Familien für die Anpassung an das amerikanische System steht.
Einmal sagt Miguel Piñero: „Wir stehlen ihnen nicht mehr ihre Uhren, wir stehlen ihnen ihre Aufmerksamkeit.“ Aber das ist nicht alles. Der Film zeigt auch einen Piñero, der zwei Ladys die Pelze stiehlt, nur um mal kurz wie ein alberner Zuhälter herumzulaufen. Die Filmfigur Piñero spielt souverän mit diesen Klischees und Zuschreibungen, mit einem Bild, dem man manchmal in amerikanischen Vorabendserien begegnet, mit der Figur des öligen, flinken Kleinganoven aus Puerto Rico, der es vielleicht nie weit bringen wird, der sich aber, wenn er cool ist, nie schnappen und festnageln lässt: auch dies eine Form des Widerstands, die Fanon möglicherweise entgangen ist.
Puerto-Ricaner sind in New York die ärmste Bevölkerungsgruppe, sind Staatsbürger der USA, erhalten Wohlfahrt, sind wehrpflichtig, zahlen aber keine Steuern und dürfen nicht wählen, obwohl heute ein Drittel aller Puerto-Ricaner in den USA lebt. Sie selbst bezeichnen sich als „weizenfarben“, gelten den weißen Nordamerikanern aber immer noch als schwarz. Kulturell sind sie Latinos, sprechen Spanisch, sind katholisch, gehören also auch nicht zu den Afroamerikanern, obwohl viele von ihnen Abkömmlinge von Sklaven aus Afrika sind. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Amerika bilden sie aber auch keine Allianzen mit anderen Latinos.
Anders als die Kubaner können die Puerto-Ricaner jederzeit zurück in ihre Heimat. Kehren sie dann wirklich heim, finden sie sich wegen der rapiden Industrialisierung oft nicht mehr zurecht. Der Kubaner Leon Ichaso weiß also, was er tut, wenn er in einer der besten Szenen seines Films Miguel Piñero auf eine Lesetournee durch Puerto Rico schickt. Piñero findet das Land seiner Kindheit nicht wieder, und seine Zuhörer, eine Handvoll Bildungsbürger, die sich nie unter sein New Yorker Publikum mischen würden, werfen ihm vor, Nostalgiker zu sein. Piñero, völlig vor den Kopf gestoßen, erwidert: „Jede Hälfte von mir ist echter als dein Schnöselhemd.“
„Piñero“ ist ein beeindruckender Film, der an vielen Stellen mehr sagt, als er wissen mag. Doch hat er auch Schwächen: Seine wacklige MTV-Ästhetik wirkt wie frisch von der Filmschule. Dynamik hin oder her, „Piñero“ hätte auch mit weniger narrativen Sprüngen funktioniert, und die wahllos zusammengestellten Ausschnitte aus Nachrichtensendungen haben dieses Zeitdokument nicht unbedingt authentischer gemacht – die ausführlich gefeierte rebellische Ikonografie der Siebzigerjahre, die abgerissene Ästhetik der New Yorker Bohème zu dieser Zeit hätten völlig gereicht.
Einige wichtige Aspekte aus dem Leben des wirklichen Autors unterschlägt „Piñero“. Miguel Piñero schrieb Drehbücher für Fernsehserien wie „Kojak“ und „Miami Vice“ und rückte damit dem Establishment näher, als es dem Film lieb ist. Mag sein, dass Piñero es ablehnte, bürgerlich zu werden, dass er wirklich gesagt hat, er brauche den Ärger, um schreiben zu können. Trotzdem wäre der Film weniger romantisierend geworden, hätte er Piñeros Kontakte zu Hollywood gezeigt.
Dass die Nebenfiguren blass bleiben, mag man dem Film vorwerfen. Es gibt Benjamin Bratt aber auch Gelegenheit, das Klischee des wilden Manns zu entwickeln und es dann wieder zu zerschlagen. Es erlaubt dem Zuschauer, in aller Ruhe die Tragik dieses Autors zu begreifen, der lebte, was er schrieb, damit Erfolg hatte und später auch wegen der Erwartungen seines weißen Publikums keinen Ausstieg aus seinem Lebensstil mehr fand. Es lässt zu, Piñero am Ende trotzdem nicht als Verlierer betrachten zu müssen, zu glauben, dass er nicht besonders glücklich geworden wäre mit einem etwas ruhigeren Leben, das man ihm so gewünscht hätte.
„Piñero“. Regie: Leon Ichaso. Mit Benjamin Bratt, Talisa Soto, Giancarlo Esposito u. a., USA 2001, 100 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen