: Netzwerk der Liebe
Was ist die Familie wert? (2): Alle Parteien reden heute von Familie und Kinderkriegen – und setzen damit vor allem auf die Sehnsucht der Wähler nach sozialer Zugehörigkeit
Was „Familienbande“ sind, hat Kurt Tucholsky schon 1929 beschrieben: „Blut ist dicker als Wasser; Krach ist dicker als Blut, und stärker als alle drei ist die Gewöhnung“. Gewöhnung! Verpflichtung! Der miese Ruf der Familie ist alt. Doch das Image erfährt eine erstaunliche Wandlung. Sogar die Grünen machen heute eine Politik fürs Kinderkriegen, als handele es sich dabei um ein neues gesellschaftliches Gegenmodell. Das ist eine interessante Verschiebung.
Denn die Familie war früher als Thema von den Konservativen gepachtet. Heute beschäftigten sich alle Parteien damit, jedoch steht dabei weniger die Familienstruktur, sondern das Kinderkriegen, die Reproduktion im Vordergrund. Es ist in der politischen Debatte nach oben gerückt. Was ist passiert?
Zunächst einmal erscheint der neue Trend zur Familienpolitik wie parteitaktisches Kalkül. Die Altersstruktur der Wählerschaft, auch bei den Grünen, hat sich verschoben. Es gibt kein großes Wählersegment mehr, das biografisch gesehen noch weit von der Kinderfrage entfernt ist. Gleichzeitig hat sich herumgesprochen, dass Kinderlosigkeit die Sozialversicherungen vor einige Probleme stellt.
Anlass genug also, dass jetzt alle in unterschiedlichen Schattierungen die Elternschaft entdecken: Die CDU will für die Kinderhabenden ein „Familiengeld“ einführen, die SPD möchte ebenso wie die Grünen vor allem die Kinderbetreuung ausbauen, um berufstätigen Frauen die Mutterschaft zu erleichtern.
Die Parteien wittern, dass hier ein wichtiges Thema steckt – doch dabei geht es nicht nur um Probleme der Sozialversicherungen. Die fallenden Geburtenraten und die so genannte Überalterung der Bevölkerung sprechen noch tiefere Ängste an, die jetzt an die Oberfläche steigen. In der flexiblen Wettbewerbsgesellschaft ist es die Furcht der Menschen vor der eigenen Bindungslosigkeit, man könnte auch etwas pathetisch sagen: vor der eigenen Vergänglichkeit.
Der Soziologe Zygmunt Bauman hat darauf hingewiesen, dass so wie früher die Nation auch die Familie, also die Generationenfolge, den Menschen ein Gefühl der sozialen und zeitlichen Verortung gab. Beide boten laut Bauman eine „kollektive Lösung“ für die „Pein der individuellen Sterblichkeit“. Die Botschaft laute folgendermaßen: „Mein Leben, so kurz es auch sei, war weder vergebens noch sinnlos, da es auf seine eigene bescheidene Weise zum Fortbestand eines Gebildes beigetragen hat, das größer ist als ich, das meiner eigenen Lebensspanne vorausgeht und sie überdauert.“
Es gibt Anzeichen, dass die Einbettung in eine Generationenfolge auch heute noch diese mythische Kraft besitzt. Dazu ein Beispiel aus den Medien: Bekanntlich ist die Lifestyle-Presse schon länger mit der Frage beschäftigt, wie man mit der „Überalterung“ umgeht. Üblicherweise versucht man dabei, ältere Menschen optisch zu verjüngen. In angelsächsischen Kultzeitschriften wie etwa wallpaper erscheinen aber inzwischen Modefotografien, auf denen alte Menschen mit strengen Gesichtern gemeinsam mit jungen Leuten abgelichtet sind. Die Bilder erinnern an die Ästhetik früherer Familienfotografien. Die Botschaft ist klar: In einer Generationenfolge hat jeder seinen Platz und seine Würde. Niemand muss sich jünger machen, als er ist.
Teil einer Generationenfolge zu sein erfüllt die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und nimmt die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Der „mythische Überschuss“ der Elternschaft ist gewissermaßen ein ideologisches Gegenmodell zu einer Mainstream-Kultur, die jedem Individuum zwar eine große Wahlfreiheit verspricht, damit aber auch eine entsprechende Furcht vor Bindungslosigkeit erzeugt.
Wer Kinder hat, legt sich nämlich fest: Die Jobwahl ist durch die ökonomische Verantwortung geprägt. Die Partnerschaft kann nicht so leicht aufgelöst werden. Frauen verzichten oft auf berufliche und damit öffentliche Anerkennung – dafür hinterlassen sie jedoch bei einigen wenigen, nämlich ihren Kindern, die tiefsten Spuren (mit denen sich immerhin heute eine ganze Psychobranche beschäftigt).
Familiäre Beziehungen sind verbindlicher als berufliche Kontakte. Wenn sie einmal da sind, kann man sie nicht mehr auflösen. Im günstigsten Fall steckt man damit in einem Netzwerk der Liebe, ohne ständig um diese Bindungen kämpfen zu müssen. Elternschaft ist somit eine narzisstische Entlastung: Man hat ja die Kinder. Genau deswegen sind Scheidungskriege und Streitereien um die Kinder oft so unerbittlich. Sie sind nichts anderes als der Kampf der Eltern um ihre wichtigsten Zugehörigkeiten.
Die Elternschaft als Gegenmittel für die Leiden an der Marktgesellschaft – das ist jedoch ein altes Heilsversprechen. Es war immer auch trügerisch. Denn Kinder können heute im Alltag weniger denn je als Mittel gegen Vereinsamung der Eltern dienen. Sozialstudien zeigen, dass Kinder heute ihre gleichaltrigen Freunde, die Peergroup, schon früh im Leben als Hauptbezugspunkt sehen und im Alltag immer weniger Zeit mit Eltern oder Großeltern verbringen. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren werden Eltern in Zukunft mit ihrem Kind vielleicht nur noch ein Fünftel ihres Lebens aktiv verbringen.
Zudem gilt: Reproduktionsideologie war immer auch Herrschaftsideologie. Arme Männer bekamen beispielsweise in vergangenen Jahrhunderten vom Staat oft gar nicht die Erlaubnis, zu heiraten. Auch in die heutigen Diskussion um eine Grundsicherung für Kinder armer Eltern schleichen sich schon mahnende Rufe ein, doch ja nicht das Kinderkriegen der Sozialschwachen zu stark zu fördern. Mehr Nachwuchs? Ja gerne, aber bitte möglichst von Mittelschichteltern!
Die mythische Überhöhung der Reproduktion birgt noch andere ideologische Gefahren. Sie kann kinderlose Singles, insbesondere Frauen, unter psychischen Druck setzen. Und auch den jüngeren Generationen ist mit dieser Überhöhung nicht gedient: Die Jugend wird damit zum Fetisch für die Älteren. Gerade Ältere frönen ja dem „Verjüngungswahn“. Doch in einer Gesellschaft der Langlebigen muss jede Generation selbst sehen, wie sie klarkommt, ohne allzu viel Hilfe der nachfolgenden Altersgruppen. Die Rentenversicherungen werden sich weiter entsprechend umstellen müssen.
In einer Gesellschaft, die die Wahlfreiheit des Individuums und die Gleichberechtigung der Geschlechter betont, kann Familienpolitik daher nur ein Ziel verfolgen: zu verhindern, dass die Entscheidung für Kinder nicht mehr mit dem Verlust so vieler anderer Optionen bestraft wird. Insbesondere Frauen sollen nicht mehr wählen müssen zwischen Kindern und Beruf, denn eine solche Wahl ist unmenschlich. Wird die Kinderbetreuung verbessert und die Arbeitswelt familienfreundlicher gestaltet, können Frauen beides haben. Ebenso wie Männer. Jeder kann sich dann sein Patchwork der Zugehörigkeiten selbst basteln. Und das wäre doch schon was.
BARBARA DRIBBUSCH
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