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Wird alles wirklich immer schlechter?

Mit der ärztlichen Versorgung sind die Deutschen unzufriedener denn je. Dabei hat die Freiheit der Versicherten stetig zugenommen

„Hätte ich alle meine Gesetze zusammengefasst und ‚Gesundheitsreform‘ drübergeschrieben, hätte es vermutlich weniger Kritik gegeben.“ So antwortete Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kürzlich auf die Frage, warum man ihr ständig Untätigkeit vorwerfe.

Mit dieser bitteren Bilanz – untypisch für die stets gut gelaunte Ministerin – hat Schmidt insofern Recht, als dass nach Jahren einander ablösender „Gesundheitsreformen“ dieser Begriff sich verselbstständigt hat. Die dauernde Forderung nach „Gesundheitsreform“ legt nahe, dass das Krankenversicherungssystem stets bankrott und überholungsbedürftig ist. Und egal wie groß oder effektiv Neuerungen sind, sie werden immer als „Reform“ verkauft.

Die Versicherten dürfte das eher verwirren denn aufklären. Jüngste Umfragen – etwa vom Allensbach-Institut – ergeben, dass die Deutschen mit der Gesundheitsversorgung unzufriedener werden und dass sie eine weitere Verschlechterung befürchten. Liegt das an zunehmend gestressten Ärzten? Oder daran, dass kein Mensch mehr weiß, ob die Darmspiegelung oder die Akupunkturbehandlung nun von der Kasse finanziert wird? Oder handelt es sich um einen Entsolidarisierungseffekt – und die gesunden Besserverdienenden haben keine Lust mehr, für die kranken Schlechterverdienenden zu zahlen?

Die Trends gehen in zwei Richtungen. Einerseits glauben viele, dass sich das Solidarsystem, in dem (fast) alle (fast) alles von der Kasse bezahlt bekommen, nicht mehr lange erhalten lässt. Andererseits sind die meisten Bürger gegen höhere Zusatzzahlungen für medizinische Behandlung. Das bekam 1998 auch der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) zu spüren, der die Zuzahlungen für Medikamente erhöhte – was von Rot-Grün nach Regierungsantritt sofort zurückgenommen wurde.

Gemessen daran, was das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem mittlerweile für Leistungen anbietet, sind die Erhöhungen der Direktzahlungen jedoch insgesamt gering. Denn nicht nur das medizinische Angebot hat sich erweitert, auch die Freiheit des Versicherten hat stetig zugenommen.

Noch bis 1970 war es üblich, dass man für jeden Krankenschein – vier gab’s pro Jahr, plus vier für den Zahnarzt – extra zur Krankenkasse musste. Das Prinzip, zunächst zum Hausarzt zu gehen, der dann eine Überweisung für den Facharzt ausstellt, wurde im Laufe der Jahrzehnte ausgehöhlt. Die Chipkarte, mit der jede Versicherte heute zum Augenarzt, morgen zum HNO-Arzt und übermorgen zu einem anderen HNO-Arzt gehen kann, gibt es erst seit 1994.

Aus Sicht der meisten Versicherten ist dies vielleicht die wichtigste Gesundheitsreform: nach Belieben zum Arzt gehen zu können. Kein Wunder, dass Ulla Schmidts Plan, das „Hausarzt-zuerst-Prinzip“ wieder einzuführen, auf beträchtliche Skepsis auch in den eigenen Reihen stößt. ULRIKE WINKELMANN

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