Große Lücken will keiner

Fast alle Gesundheitspolitiker wollen das jetzige System erhalten – die Opposition mit höherer Zuzahlung, Rot-Grün mit erweiterter Versicherungspflicht

von ULRIKE WINKELMANN

Gesundheitspolitik ist schwierig, manche halten sie sogar für gefährlich. „Egal wo man hintritt, es geht immer eine Mine hoch“, so bilanziert der SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Kirschner die Arbeit des Gesundheitsausschusses – und damit auch seine eigene: Kirschner sitzt diesem Ausschuss vor. Noch.

Kein Politikfeld kennt derartig starke und widerstreitende Lobbys wie die Gesundheitspolitik, und es gibt nur wenige Politiker, die sich gegenüber Ärzten, Kassen und Pharmaindustrie behaupten konnten oder, um es mit Kirschner zu sagen, deren Ideen im Minenfeld nicht zerfetzt wurden.

Was den Einfluss der Pharmaindustrie angeht: Ein anschauliches Beispiel war voriges Jahr der Versuch der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), zur Senkung der Arzneimittelkosten den Herstellern einen prozentualen Preisnachlass aufzudrücken. Es bedurfte bloß eines Abendessens im Kanzleramt und der Drohung mit Arbeitsplatzabbau in fünfstelliger Höhe, um den Beitrag der Industrie auf eine verträgliche Einmalzahlung zu beschränken.

Ebenso wie die Pharmafirmen wollen auch die Ärzte keine Einschränkungen. Grundsätzlich wollen sie verordnen, was sie für richtig halten. Da haben sie die Pharmabranche natürlich hinter sich. Die Kassen allerdings wollen nicht für alles zahlen, was verordnet wird. Schließlich müssen sie seit 1995 miteinander um niedrige Beitragssätze konkurrieren.

So ist auch der jüngste Vorstoß der Kassen zu bewerten, dass sie sich aussuchen wollen, mit welchen Ärzten sie zusammenarbeiten, sprich: wessen Leistung sie vergüten. Wenn es schon einen Kassenwettbewerb geben muss, dann muss es auch einen Ärztewettbewerb geben, meinen sie. Die Politik ist diesem Vorstoß nicht prinzipiell abgeneigt – fragt sich nur, ob man die mächtigen Ärztevertretungen nun im Wahlkampf noch gegen sich aufbringen will.

Bei all solchem Hickhack gibt es jedoch gleichzeitig einen sehr breiten Konsens, dass das bestehende Gesundheitssystem leistungs- und ausbaufähig ist. Abgesehen von der Wirtschaft und den ganz Wirtschaftsliberalen in der FDP, die auf Vollprivatisierung setzen, wollen eigentlich alle das von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanzierte Solidarmodell der gesetzlichen Krankenversicherung behalten. Selbst über das Geldproblem, das – übersetzt in steigende Kassenbeiträge – die Achillesferse jedes Gesundheitsministers ist, herrscht inzwischen Einigkeit.

Von der PDS über die Volksparteien bis zu den ganz Wirtschaftsliberalen sagen alle: Es gibt keine Kostenexplosion und damit kein Kostenproblem, sondern ein Einnahmenproblem. Die Lohnquote sinkt: Immer weniger Arbeitnehmer zahlen in die Kassen ein. Gleichzeitig müssen die Kassen enorme Ausfälle verkraften, weil die Regierung die Beiträge gekürzt hat, die ihnen von Rentnern und Arbeitslosen zufließen.

Der Unterschied zwischen den Parteien tut sich erst in der Beantwortung der Frage auf: Wie gehe ich mit der Einnahmenerosion um? Grob gesagt, gibt es hier zwei Antworten: entweder mehr Geld in die gesetzliche Krankenversicherung einspeisen oder mehr Geld von den Patienten nehmen. SPD und Grüne stehen eher dafür, den gesetzlichen Kassen mehr Beitragszahler und mehr Beiträge zu verschaffen. Minimalkonsens ist hier, nach der Wahl die Grenze für die Versicherungspflicht zu erhöhen. Diese Grenze legt fest, ab welchem Einkommen sich jemand privat versichern darf. Eine Erhöhung auf 4.500 Euro würde dem Solidarsystem einen großen Teil der jungen Gutverdienenden erhalten.

Eine weiter gehende Forderung ist, auch Miet-, Börsen- und Zinseinkünfte zusammenzurechnen, um den Beitrag eines Versicherten zu ermitteln. Schließlich verdienen viele ihr Geld nicht nur durch Arbeit, sondern auch durch Kapital. Noch nicht ganz untergegangen ist die urgrüne und PDS-Forderung nach einer umfassenden Bürgerversicherung für die gesamte Bevölkerung, durch die das private Versicherungswesen in den Wellness- und Luxusbereich zurückgedrängt würde. Unnötig zu erwähnen, dass die Wirtschaft gegen diese Vorschläge Sturm läuft.

Union und FDP wollen die Patienten an den Behandlungskosten beteiligen und die Leistungen der Krankenkassen aufteilen. Wenn Versicherte mehr zuzahlen, nehmen sie auch weniger Leistung in Anspruch, so die Logik. Die Liberalen streben dabei eine Privatisierung des gesamten Gesundheitssystems an. „Das, was bei der Rente notwendig war – mehr private Vorsorge –, gewinnt auch bei der Gesundheit an Bedeutung“, sagt FDP-Chef Guido Westerwelle. Plan ist, die solidarische Krankenversicherung nur noch als Rumpf bestehen zu lassen.

Die Union geht vorläufig nicht so weit. Hier hat Horst Seehofer fast im Alleingang die allzu FDP-nahen Vorstellungen zurückgedrängt, obwohl auch seine Pläne dem Ausgleich zwischen Kranken und Gesunden zuwiderlaufen. Er will als Gesundheitsminister verschiedene Tarife einführen: Ähnlich wie in der Kfz-Versicherung soll es eine Wahl geben zwischen hoher Eigenbeteiligung im Schadensfall, aber geringeren Beiträgen (Teilkasko), und geringerer Direktzahlung, aber höheren Beiträgen (Vollkasko). Mit diesen Plänen hat Seehofer ein Problem: Die großen Kassen glauben nicht, dass ihnen das mehr Geld einbringt.

Wie Schmidt setzt Seehofer zur Umsetzung seiner Ideen auf einen breiten Konsens der Akteure, vor allem also mit Kassen und Ärzten – bei Schmidt hieß das „runder Tisch“, Seehofer spricht von einem „Gesundheitsgipfel“. Die Überlebensfähigkeit eines Ministers oder einer Ministerin hängt entscheidend von der Fähigkeit ab, sich im trauten Kreis der Verbandsvertreter und Experten Deckung zu verschaffen, wenn wieder eine Mine hochgeht. In dieser Disziplin hat Seehofer in seiner Amtszeit bis 1998 eine Menge Erfahrung gesammelt. Ob er die Gelegenheit wieder bekommt, bleibt abzuwarten.