: Ein klares Bekenntnis zu Europa
Heute wird in Ankara eine neue Partei gegründet. Die Erwartungen an „Yeni Türkiye“, etwas zu bewegen, sind hoch. Doch der proeuropäische Kurs von Parteichef und Exaußenminister Ismail Cem kommt nicht bei allen seinen Landsleuten gut an
aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH
Der Name ist Programm. „Yeni Türkiye“, Neue Türkei, soll die Partei heißen, die heute gegründet wird. Selten hat eine neue Parteiformation in den führenden Medien so viel Vorschusslorbeeren bekommen wie der Versuch, den Exaußenminister Ismail Cem und der vorherige Vizeministerpräsident Hüsamettin Özkan heute starten werden. Die Erwartungen sind hoch. Nach über einem Jahr Blockade in der Regierung von Ministerpräsident Ecevit, soll die neue Partei wieder Schwung in den wirtschaftlichen Reformprozess bringen und vor allem einen deutlichen Schritt nach vorn auf dem Weg nach Europa machen.
Ismail Cem ist als Parteivorsitzender eine glaubwürdige Besetzung. Er gehört zu den führenden Reformern innerhalb des politischen Establishments und ist fest davon überzeugt, dass die Zukunft des Landes in Europa liegt. Es war ein seltener politischer Glücksfall, dass im Sommer 1999, als die Türkei von dem verheerenden Beben am Marmarameer erschüttert wurde, mit Cem und Jorgos Papandreou in Griechenland und der Türkei zwei Außenminister amtierten, die die Chance ergriffen und nach jahrzehntelanger Spannung einen ernsthaften Aussöhnungsprozess zwischen den Nachbarn einleiteten. Wenn Cem nach den Neuwahlen Ministerpräsident würde und in Athen Papandreou die Nachfolge von Simitis antrete, gäbe es erstmals seit den Dreißigerjahren eine politische Führung, die Frieden und Ausgleich im östlichen Mittelmeer will.
Doch Wahlen gewinnt man nicht mit außenpolitischen Programmen, und Cem muss aufpassen, dass er nicht zum Helden im Ausland und zum Buhmann zu Hause wird. Einen Vorgeschmack auf kommende Auseinandersetzungen erhielt er bei seinem ersten Auftritt nach dem Austritt aus Ecevits DSP in seinem Wahlkreis in Kayseri am letzten Donnerstag. Nur mit Mühe konnten seine Fans die Protestierer übertönen, die ihm Verrat und den Ausverkauf des Landes vorwarfen. Denn während Cem und seine Mitstreiter Hüsamettin Özkan und Wirtschaftsminister Kemal Dervis in den vornehmeren Vierteln Istanbuls, Ankaras und Izmirs ihre Anhänger haben, sind sie in Anatolien zumindest umstritten.
Kemal Dervis, Exweltbankmanager und Architekt des mit dem Internationalen Währungsfonds ausgehandelten Programms mag in Washington und Brüssel als Garant für die Kreditwürdigkeit der Türkei gelten. In Kayseri, Afyon und Iskenderun ist er der Mann, der Jobs vernichtet und Suventionen für die Tabak-, Tee- und Weizenbauern streicht.
Am meisten Anlass zu Misstrauen bietet jedoch der Dritte im Bunde. Hüsamettin Özkan ist der typische Basarhändler der Politik. Er kennt jeden, erweist Gefälligkeiten und treibt Gefälligkeiten ein, wobei er auch privat zu Reichtum gekommen sein soll. In der Auseinandersetzung zwischen Präsident Sezer und Ministerpräsident Ecevit, bei der es um die Kontrolle der staatlichen Banken ging und die zum Auslöser der Wirtschaftskrise wurde, war es Özkan, der am lautesten gegen die Kontrolleure des Präsidenten protestierte. Denn er war für die Banken und in letzter Instanz für die unseriöse Kreditvergabe verantwortlich.
Doch ohne einen Mann wie Özkan kann Cem keine Partei gründen. Man braucht Cem nur im Kontakt mit dem einfachen Volk zu sehen. Im Kreis seiner Wähler wirkt der intellektuelle Exaußenminister wie ein Börsenhändler auf dem örtlichen Wochenmarkt. Vielleicht kann sein Mangel an Populismus durch populäre Künstler wettgemacht werden, die sich „Yeni Türkiye“ anschließen wollen: Von Ibrahim Tatlesi, dem König des Arabesk, bis zur Popikone Sezen Aksu sind angeblich alle dabei.
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