: Endgültig: Das war‘s jetzt
von ARNO FRANK
400 Jugendliche hat’s vergangenen Samstag in München auf die Straße getrieben. Am Sendlinger Tor versammelte sie sich die engagierte Menge, schwenkte Plakate und trillerte mit Pfeifen. 8.000 Unterschriften sind gesammelt worden, um dem geballten Unmut Ausdruck zu verleihen. 8.000 Unterschriften gegen … was eigentlich? Gegen eine erneute Ausweisung des kleinkriminellen türkischen Altersgenossen Mehmet aus dem schnieken München? Gegen die ausufernde Aidsepidemie in Afrika? Gegen Kinderarbeit in Kambodscha? Hallo? Nein, die Demonstranten protestierten gegen die Einstellung des jetzt-Magazins, einer Jugendbeilage der Süddeutschen Zeitung. Die 8.000 Unterschriften wurden einem Vertreter des Verlages übergeben – auf dass Papi seine Entscheidung, den jetzt-Machern das Taschengeld zu streichen, noch einmal überdenke. Was ist passiert?
Nun, Papi – respektive der Süddeutsche Verlag – steht das Wasser bis zum Hals. „Es ist legitim, über Kürzungen aller Art nachzudenken“, sagen in solchen Fällen die Unternehmenssprecher, setzen den Rotstift an und nennen es „Konzentration auf das Kerngeschäft“. Noch 2000 verbuchte der Konzern bei rund 870 Millionen Mark Umsatz zweistellige Renditen. Im Geschäftsjahr 2001 aber kam der Einbruch im Anzeigen- und Stellenmarkt. Insgesamt sollen im Konzern mehr als zehn Prozent von 5.000 Stellen abgebaut werden. Es geht ans Eingemachte: Ihre durchaus renommierte „Berliner Seite“ haben die Münchener schon zähneknirschend beerdigen müssen, jetzt ist eben jetzt dran. Heute erscheint die Beilage zum letzten Mal.
In bester Gesellschaft
„Es ist das einzige Magazin, das Jugendkultur authentisch rübergebracht hat“, bedauerte ein 21-jähriger Demonstrant und findet sich in bester Gesellschaft: Die authentischen No Angels schlossen sich dem Protest ebenso an wie der jugendliche „Lindenstraßen“-Produzent Hans W. Geißendörfer und arrivierte Exautoren wie Christian Kracht.
Vom Stapel lief das oft fälschlich als „Bravo für Gymnasiasten“ bespöttelte Projekt 1993. Und war tatsächlich von Anfang an ganz dicht dran an der Lebensrealität junger Menschen „von 15 bis 25 Jahren“. Was macht den Alltag lebenswert? Dafür gab’s eine Liste. Was ist der Unterschied zwischen Jungs und Mädels? Dafür gab’s eine eigene Rubrik. Was ist vom neuen Videoclip auf MTV oder Viva zu halten? Dafür gab’s eine eigene Kolumne. Wie verändert der Führerschein, die Schwangerschaft oder die Querschnittslähmung mein Leben? In kautzigem Layout skizzierten lange Reportagen alle möglichen Fährnisse des Daseins. Mit dem idealen Design, jungen Lesern sogar eng gedruckte Bleiwüsten als spannende Orte voller Abenteuer und Oasen schmackhaft zu machen. Darüber hinaus war der Blick der jetzt-Fotografen auf die jungen Models von einer sublimen Erotik, die weit weniger Wünsche und Fragen offen ließ als die entsprechenden Seiten in der Bravo.
Starthilfe für Autoren
Für das Layout wurde jetzt viel gelobt und international ausgezeichnet – dabei hatten die Macher doch eigentlich nur den US-amerikanischen Avantgardisten David Carson auf den deutschen Markt übersetzt. Gleichwohl wirkten spielerische Typografie und collagiertes Bildmaterial nicht nur erfrischend, sondern rundeten das Erscheinungsbild zum Gesamtkunstwerk; wenn es ein homogenes jugendliches Lebensgefühl gibt, dann ist es die Heterogenität, die heillose Zersplitterung, das Leben zwischen Versatzstücken. Und eben jene visuellen und inhaltlichen Versatzstücke des Alltags fügte jetzt jeden Montag zu einer 30-seitigen Collage der Befindlichkeiten zusammen. Es war durchaus einzigartig, worauf der Süddeutsche Verlag nun verzichtet.
Gegen die Qualität des Heftes wie seine wöchentliche Konstruktion medialer Realitäten ist nichts einzuwenden – wohl aber gegen das kulturelle und merkantile Kartell, zu dessen Gunsten dies geschah. Zwei Beispiele? Nur für Mädchen: Als die junge Autorin Rebecca Casati ihren ersten Roman veröffentlichte, brachte das SZ-Magazin einen exklusiven Vorabdruck – ohne dass sich bei der Lektüre so recht erschließen ließ, warum die angeblich ehrwürdige Beilage dafür fünf Seiten frei räumte. Der Grund stand dann weiter hinten, im Impressum: Rebecca Casati ist SZ-Magazin-Autorin und Cross Marketing eine geile Erfindung. Denn kaum war das Buch erschienen, da führte die Popliteratin auf der jetzt-Homepage ein „Tagebuch“. Inhalt: Wie es sich so anfühlt, wenn man seinen ersten Roman veröffentlicht. Da ist es beinahe überflüssig anzumerken, dass auch Rebecca Casati gegen die Einstellung des jetzt protestiert, hey, hey, hey. So ganz lässt sich der Eindruck also nicht von der Hand weisen, dass ein selbstreferenzieller Zirkel von Autoren die süddeutschen Beilagen als das nutzt, was sie eigentlich sind: exklusive, allzu teure Werbebroschüren.
Womit wir beim zweiten Beispiel wären, nur für Jungs: 2001 kam jetzt mit dem Deutschen Presserat ins Gehege. Der Beschwerdeausschuss sprach eine Rüge wegen des Verstoßes gegen Ziffer 7 des Pressekodex aus, worin die Trennung von redaktionellem Teil und Anzeigen geregelt ist. „Verleger und Redakteure“, steht dort, „wehren derartige Versuche ab und achten auf eine klare Trennung zwischen redaktionellem Text und Veröffentlichungen zu werblichen Zwecken.“ Jetzt hatte Anzeigen für eine Kreditkarte veröffentlicht, in denen Teile eines redaktionellen Textes auf der gleichen Doppelseite zitiert und als Fotomotiv umgesetzt wurden. Kaum verwunderlich beim Blick aufs stilprägende Personal: der frühere jetzt-Redaktionsleiter Rudolf Spindler hat seine Aufgaben so gut erfüllt, dass er heute Geschäftsführer der verbliebenen SZ-Supplements ist. Er ist kein Journalist, sondern Marketingstratege – und offenbar eine Zierde seiner Zunft. Schließlich betreute er eine affirmative Werbebeilage, für deren Erhalt die Leserinnen und Leser nun sogar auf die Straße gehen.
Jetzt fuhr immer schon zweigleisig. Einerseits sollte das Heft die Sprößlinge von SZ-Abonnenten mittelfristig ebenfalls in SZ-Abonnenten verwandeln, andererseits ein kaufkräftiges Publikum binden, damit zahlungskräftige Markenartikler inserieren – zum Beispiel für Kreditkarten. Eben jenes Publikum hadert jetzt, ihm würde das einzige Magazin genommen, das „uns noch ernst nimmt“ – wie es im überfüllten Forum der Homepage www.jetzt.de heißt: „Sie alle trugen Sonnenbrillen. Sie alle protestierten. Der jetzt-Kosmos hat sich in die echte Welt gewagt. Der jetzt-Kosmos hat der echten Welt gezeigt: es geht anders. All diese Menschen, die am Sendlinger-Tor-Platz ihren Unmut geäußert haben: All diese Menschen, die diesen Aufschrei organisiert haben: Ihr alle habt gezeigt, dass es Menschen gibt, die sich von etwas anderem bewegen lassen als von Geld und Wirtschaft.“ Anschließend zogen die Demonstranten ins „Atomic Café“, Münchens hippe Vorzeigedisco. Aua.
Ende der Nabelschau
Womit wenigstens das Rätsel gelöst wäre, wann eine als unpolitisch gescholtene Jugend auf die Straße geht – wenn man ihr das Zentralorgan nimmt. Ob der Popjournalismus deswegen wirklich abgewirtschaftet hat, muss sich zeigen. Zumindest die selbstzufriedene Nabelschau einer saturierten Generation wird abgelenkt durch den kühlen Blick auf den Taschenrechner. Und wenn dort rote Zahlen stehen, wird selbst der schönste Kosmos zur Seifenblase. Wer als Konsument ernst genommen werden will, der wird auch künftig nicht unter Informationsmangel leiden müssen. Wer als Jugendlicher wirklich ernst genommen werden will, der ist auch mit der Süddeutschen Zeitung ganz gut bedient.
Neun Jahren lang ging es in jetzt um die richtigen Turnschuhe, Computerspiele, Bikinis, Filme, Romane, Platten, Kreditkarten und Träume, ging es um das zu erwartende, richtige Leben selbst. Fast ebenso lange lieferte die legendäre „Lebenswert“-Liste Woche für Woche gute Gründe. Um morgens aufzustehen. Um sich zu verlieben. Um nicht vor den ICE zu springen. Erst heute, mit seinem Untergang, verkörpert jetzt den eigentlichen Grund, warum sich das Leben lohnt. Es geht irgendwann zu Ende, bald, jetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen