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Auf der anderen Seite der Stadt

Aus der Heimat der Jogginghose. Der Filmemacher Bernhard Sallmann hat eine Liebeserklärung an Neukölln gedreht. Er beschreibt den Bezirk jenseits aller Klischees, weder als Oase der Schnäppchenläden noch als Antipode zum Potsdamer Platz

von JANA SITTNICK

Neukölln ist nicht das, wofür die Zeitungen es halten: Bernhard Sallmann sympathisiert in seinem Dokumentarfilm mit den verborgenen Seiten des Bezirks Die Reise beginnt im Billigland: Die Kamera fährt gemächlich Auto, filmt die Karl-Marx-Straße, und der Blick des Zuschauers fährt mit. Man sieht Geschäfte, die „Knüller Kiste“, „Sconti“ und „Sparland“ heißen. Man sieht überfüllte Trottoirs, auf denen sich Menschenmassen vorbei schieben, Fußgänger in bunten Anoraks und Jogginghosen. Die Sonne scheint. Ein Mann erklärt den Unterschied zwischen Neukölln und den „In“-Bezirken, er sagt, in Mitte oder Prenzlauer Berg werden Wohnungen gesucht – in Neukölln aber sucht man nicht, „da landet man“.

Bernhard Sallmanns Dokumentarfilm „Berlin-Neukölln“ legt Zeugnis ab von der Existenz eines Stadtbezirks jenseits der bekannten Klischees, wo es schön sein kann, lustig, freundlich. Doch bevor dies sichtbar wird, erscheint Neukölln erst einmal von seiner rauen Seite: Sallmann stellt den Bezirk als Gegenteil zur Trendmeile vor, als Oase der Schnäppchenläden, mit dem Karstadt-Overkill am Herrmannplatz, dem Durcheinander der Gerüche, Farben und Sprachen, mit der Atemlosigkeit und dem Aggressionsdruck. Man weiß, dass hier ist der einstige Arbeiterbezirk ohne Anschluss an die Servicegesellschaft, mit seiner „Sozialproblematik“, die mit den Stichworten „hoher Ausländeranteil“, „hohe Arbeitslosenquote“, „hohe Kriminalitätsrate“ markiert ist. Man erkennt auch die Klischees, die solche Verknappungen bilden und die die Realität verzerren.

In dem berühmt-berüchtigten Spiegel-Artikel, der im Herbst 1997 erschien, wurde Neukölln als „Hauptstadt der Kriminalität“ und „Sozialamt Deutschlands“ bezeichnet. „Das hat damals viele Neuköllner erschreckt und beleidigt“, erinnert sich der Filmemacher, „und sogar Protestdemonstrationen hervorgerufen. Damit wollte man zeigen, dass hier alles doch ganz schön ist. Doch beide Positionen stimmen nicht.“ Die Wahrheit liegt wohl wie so oft in den Schichten dazwischen.

Sallmann versucht, das Dazwischen zu finden. Der 35-jährige Österreicher lebt selbst seit 1988 in Neukölln, das Thema betrifft ihn persönlich. Zwei Jahre trug er die Filmidee mit sich herum, und dann schrieb er während einer Zugfahrt das Filmkonzept, mit dem er die Redakteure vom „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF überzeugte. Im Herbst 2000 bekam Sallmann den Zuschlag, im Mai 2001 wurde „Berlin-Neukölln“ an 21 Tagen gedreht.

Dem Filmer ging es nicht darum, ein angeschlagenes Image zu retten. „Ich wollte nicht das Spiegel-Gegenstück über Neukölln machen“, sagt er. Ein bisschen ist es aber doch so gekommen. Sallmann hat eine Liebeserklärung abgeliefert. Er würde es „nicht wagen“, dies so zu bezeichnen, und er weiß, dass man Publikumsreaktionen nicht steuern kann. Und doch ist er froh über die positiven Reaktionen, über das Presselob, das die TV-Ausstrahlung erntete. Sein Film bedient weder das Negativbild Neuköllns, noch zerstört er es: Er nimmt die Ästhetik des vermeintlich Hässlichen, die sich über den Ort spannt, einfach auf, um sie nach und nach durch seine Erzählung von dem anderen zu ersetzen. Er zeigt in einer unaufgeregten Weise, was unter der Oberfläche blüht. „Berlin-Neukölln“ will, so Bernhard Sallmann, „den als sozialen Brennpunkt bekannten Bezirk“ aus einer anderen als der bekannten Perspektive schildern. Im Mittelpunkt stünden die vielschichtigen Erinnerungen der Neuköllner und die nachbarschaftliche Sphäre.

Sallmanns neunzigminütiger Film ist eine mit Interviews gespickte Reise, ein urbanes Gleiten, das sich an die Fersen seiner Protagonisten heftet und ihren Bewegungsimpulsen folgt. Die Kamera von Susanne Schüle fährt mit dem U-Bahn-Lift unter die Erde, und filmt Michael Eggert, der im Rollstuhl sitzt, und gut gelaunt von seinem Kampf mit den Behörden erzählt. Eggert und seine Freundin Denise Kastler haben den Kampf gewonnen: Auf ihren Druck hin wurde in der U-Bahnstation Rathaus Neukölln erstmalig nachträglich ein Aufzug eingebaut. Mittlerweile sollen es 140 Aufzüge sein, in der ganzen Stadt, sagt Eggert stolz. Wenn Eggert und Kastler auf den glatten Fliesen des U-Bahnhofs mit ihren Rollstühlen um die Wette fahren, ist das ein berührender Moment ohne Randgruppenpathos. Die beiden sind dann einfach nur ein verliebtes Paar, mit Rädern unten dran. Später sitzt Denise Kastler in ihrem Hinterhofgarten und redet von ihrer Begeisterung für das Stadtleben und von der Schwierigkeit, in ihr zur Ruhe zu kommen.

„Für die Rollstuhlszene hat sich die Kamerafrau selbst in einen Rollstuhl gesetzt, und sich von ihrem Assistenten schieben lassen“, sagt Bernhard Sallmann. „Wir wollten nicht von oben herab filmen.“ Sallmann misst Höhen und Tiefen ab: Er steigt von der Untergrundbahn in den Helicopter, filmt den Bezirk aus der Luft, klettert auf Türme, von denen man die Stadt überblickt, nimmt die tief fliegenden, im nahen Tempelhof landenden Flugzeuge auf, geht in den Park und immer wieder auf die Straße.

Eine ältere Dame, lebenslange Neuköllnerin, erzählt von Kindermördern, Kinobesuchen nach dem Krieg und Gewaltfantasien im Körnerpark. Ihre krude Geschichte, die sie sich vorm Einschlafen erzählt, läuft auf einem kleinen Rekorder mit. Die Frau mit dem geblümten Regenschirm lacht dazu. Ein türkischer Geschäftsmann nimmt Sallmann an die Hand und zeigt ihm seine ehemaligen Läden, die jetzt von Verwandten betrieben werden. Die Schiftstellerin Kathrin Röggla fährt Rad und beschreibt Neukölln als „periphere“ Stadterfahrung und „Antipode zum Potsdamer Platz“. Der Leiter des Comeniusgartens erklärt seinen Besuchern die Ideen des böhmischen Philosophen Johann Amos Comenius (1592–1670). Türkenjungs mit dicken Puff-Daddy-Halsketten drängeln sich ins Bild, fragen, ob sie jetzt „auf Sendung“ sind, und sagen grinsend: „Sonnenallee ist geil.“

Der betuliche Comenius-Spruch „Alles fließe von selbst – Gewalt sei fern den Dingen“ ist dem Film voran gestellt. Bernhard Sallmann erscheint er wie „ein ferner Ruf“, mitten hinein ins harte Neukölln, von dem ein Protagonist, allerdings hinter der Kamera, gesagt hat, er wohne gerne hier, weil es so „langweilig“ ist. Darauf muss man erst mal kommen.

„Berlin-Neukölln“ läuft heute um 20 Uhr im Filmkunsthaus Babylon, Mitte

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