: Die Zeit wird knapp
Vielen Zwangsarbeitern fehlen immer noch Dokumente, um Entschädigung beantragen zu können
von STEFAN REINECKE und CHRISTIAN SEMLER
Es hat fast sechzig Jahre gedauert, bis die Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter schließlich anlief. Viele Hindernisse lagen auf dem Weg: Die Bundesdeutschen entschädigten in den Fünfzigerjahren nur Richtung Westen, Zahlungen an den Feind im Osten waren im Kalten Krieg wenig opportun. Zwangsarbeiter gingen generell leer aus. Nach 1990 stellte sich die Kohl-Regierung taub. Erst der Boykottdruck in den USA auf Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, brachte die Wende. Rot-Grün sorgte dafür, dass osteuropäischen Zwangsarbeiter einbezogen wurden.
Vor einem Jahr haben Auszahlungen begonnen: Gut 1,6 Milliarden Euro gingen an 867.000 ehemalige Zwangsarbeiter, vor allem in Polen (327.000) und der Ukraine (185.000) „Das sind mehr, als wir hofften“, sagt Michael Jansen, Chef der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. Denn „Auszahlung“ klingt einfach, ist aber kompliziert.
Das Modell sieht so aus: Die deutsche Stiftung gibt das Geld, Partnerorganisationen in Ostmittel- und Osteuropa prüfen die Anträge und zahlen aus. Das Bundesfinanzministerium beaufsichtigt. Man glaubte, auf der Hut sein zu müssen: Im November 2000 hatte es einen handfesten Skandal gegeben. In Moskau waren 40 Millionen Euro (von Kohls „Versöhnungsstiftung“) verschwunden – die zuständige Moskauer Stiftung hatte Geld bei bankrotten Banken angelegt.
Das Gesetz hat, um zu verhindern, dass Berechtigte leer ausgehen, und auch wegen der Moskauer Erfahrung einen anderen Zahlungsmodus gewählt. Bezahlt wird nicht auf einen Schlag, sondern in zwei Raten, wobei die erste Rate wiederum in Tranchen aufgeteilt wird. Und man schickt Teams nach Warschau und Minsk, die Stichproben machen. Knapp 4 Prozent aller Zahlungen haben die Teams gecheckt – ohne große Beanstandungen. Außerdem hat ein Wirtschaftsprüfer die Bücher der Partnerorganisationen durchforstet – ohne bisher böse Überraschungen zu erleben, so Stiftungschef Jansen (zur Kritik an der Ratenzahlung siehe Interview).
Die Auszahlung sollte 2003 beendet sein, nun wird sie bis 2005 fortgeführt. Denn viele der 2,1 Millionen Antragsteller können, nach mehr als fünfzig Jahren, ihren Anspruch nicht „glaubhaft machen“, wie das Stiftungsgesetz es fordert. Prüfung und Recherche in Archiven brauchen Zeit.
Michael Jansen betont, dass die Stiftung flexibel und keineswegs nur buchstabentreu reagiert. Geld bekommt, so Jansen, auch eine Gruppe, die im Gesetz nicht vorgesehen ist: Kinder, die in Osteuropa verschleppt wurden und dort für deutsche Firmen arbeiten mussten.
Ein Resümee? Es ist zweifellos ein Verdienst von Rot-Grün, die Zwangsarbeiterentschädigung auf den Weg gebracht zu haben. 867.000 Menschen haben Geld bekommen – wobei zu Recht zwischen der Sklavenarbeit im KZ und der Zwangsarbeit unterschieden wurde. Für die zur Arbeit in der Landwirtschaft Gepressten wird innerhalb der Globalsumme für jede Partnerorganisation ein wenn auch geringer Anteil bereitstehen. Das steht auf der Habenseite – Michael Jansen und sein Team halten das zu Recht für einen Erfolg.
Kritikwürdig bleibt, dass italienische Soldaten, die 1944 als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wurden, keinen einzigen Euro erhalten – obwohl viele besonders grausam behandelt wurden. Als Kriegsgefangene hätten sie keinen Anspruch auf Entschädigung, heißt es. Ein fadenscheiniges Argument: Faktisch waren sie zivile Verschleppte. Mehrere zehntausend italienische Exzwangsarbeiter warten heute vergebens auf Entschädigung. Dieses Unrecht steht auf der Sollseite der Bilanz.
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