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„Die palästinensische Gesellschaft steht vor der Anarchie“

Der israelische Wissenschaftler Abraham Sela meint, dass ein Personalwechsel allein nicht zur Demokratisierung der Autonomiebehörde führt. Verändern müssten sich die Werte

taz: Herr Sela, die USA fordern eine Reduzierung der Zahl der palästinensischen Sicherheitsdienste. Was für eine Logik steckt hinter der Annahme, weniger Sicherheitsdienste würden mehr Sicherheit bringen?

Abraham Sela: Wir gehen davon aus, dass es mit weniger Sicherheitsdiensten einfacher sein wird, sich abzustimmen. Aber die Frage ist tatsächlich nicht die Anzahl der Dienste, schließlich gibt es auch in Israel eine ganze Reihe davon. Die Frage ist vielmehr, ob es eine zentrale Führung gibt und von welchen Vorstellungen diese angetrieben wird. Wenn Arafat die Zahl der Sicherheitsdienste von siebzehn auf vier zurückfährt, bedeutet das nicht automatisch, dass es keinen Terror mehr geben wird.

Welche konkrete Forderung steht hinter dem allgemeinen Ruf nach Reformen der Autonomiebehörde?

Für Israel ist das wichtigste, dass Arafat von der Bühne verschwindet. Für die USA wiederum stehen Sicherheit und Demokratie im Vordergrund. Ägypten will auch Demokratie, warnt aber davor, Arafat anzutasten. Es gibt keine einheitliche Haltung hinsichtlich der Reformen. Mit dem Austausch von Führungsleuten ist es nicht getan, schon gar nicht, wenn die neuen Leute doch wieder aus den alten Reihen rekrutiert werden. Wer glaubt, Reformen sind möglich, ohne die Natur der Gesellschaft zu ändern, irrt. Und weil man die Gesellschaft nicht verändern kann, die von traditionellen Normen anstelle von formalen Institutionen getragen wird, kann es keine Reformen geben, sondern allenfalls kosmetische Veränderungen.

Sie sagen, dass es im Grunde die alten Leute sind, die von Arafat ins Kabinett gerufen wurden. Tatsächlich sind Parlamentspräsident Abu Ala, der Arafat-Vertraute Abu Masen und auch Arafats Finanzberater Mohammad Rascheed von der Bildfläche verschwunden.

Rascheed gilt als Mann der Tat und wird mit der Korruption in Verbindung gebracht. Ich weiß nicht, ob es eine konkrete Forderung gab, Rascheed aus dem Amt zu versetzen, um die Behörde zu reinigen. Letztendlich unterhalten auch israelische Geschäftsleute enge Kontakte zu ihm. Abu Masen und Abu Ala sind nicht mehr im Autonomiegebiet. Möglich ist, dass die Leute aus dem unmittelbaren Umfeld Arafats verstanden haben, dass seine Ära dem Ende entgegengeht, und deshalb ihr eigenes Glück versuchen. Möglich ist auch, dass Arafat sie rausgesetzt hat, um der Welt das Gefühl zu geben, dass Veränderungen stattfinden. Die wichtigsten Leute sind weg – das mag temporär sein. Klar ist, dass ohne Arafat die Leute aus der alten Führungsriege keine Rolle mehr spielen werden. Sie haben keine Basis.

Das ist mit den jungen Sicherheitschefs, die jetzt nicht mehr für Arafat arbeiten, anders.

Dschibril Radschub will Vize-Innenminister werden. Seine Leute stützen ihn, und die Ernennung seines Nachfolgers liegt derzeit auf Eis. In jedem anderen Land hätte man die Sicherheitsleute, die sich weigern, mit dem neuen Chef zu kooperieren, ins Gefängnis gesteckt. Das ist Meuterei. Aber Arafat konnte und wollte das nicht. Er geht nicht mit Gewalt gegen die eigenen Leute vor. Radschub gibt noch immer das Kommando. Dabei geht es nicht nur um Sicherheit, sondern um Geld, um Geschäfte und Verbindungen. Das kann man nicht einfach aufbrechen.

Glauben Sie, der neue Finanzminister Salam Fayyad hat eine Chance, die Geldgeschäfte der palästinensischen Führung transparenter zu machen?

Fayyad ist ein Profi und wird in der Finanzwelt sehr geschätzt. Ob seine Mission eine Chance hat, hängt wieder von Arafat ab. Die Frage ist die Verantwortungsteilung zwischen ihm und Arafat. Wer kontrolliert wen? Wird Arafat auf einen Teil seiner Souveränität verzichten? Ohne seine Kooperation wird Fayyad seine Mission nicht erfüllen, denn niemand außer Arafat weiß, wohin die Gelder fließen.

Die Palästinenser sagen, dass wahre Reformen erst nach einer Staatsgründung möglich sein werden.

Das eine hat mit dem anderen nur wenig zu tun. Die palästinensische Gesellschaft steht am Abgrund zur Anarchie. Dabei werden zwei Gruppen immer stärker: die Tansimmiliz und die Hamas. Beide haben den Vorteil, dass sie aus dem Volk gewachsen sind, wobei die Tansim zusätzlich der Fatah angeschlossen sind. Hier kommen also Leute, wie Ex-Sicherheitschef Radschub ins Spiel. Dennoch kann nicht von einer wirklichen Alternative zu Arafat und der Autonomiebehörde gesprochen werden, denn die Gruppen sind auf die lokale Ebene beschränkt. Es muss eine neue Bewegung auf nationaler Ebene entstehen, aber dafür gibt es im Moment keine Leute. Die Mittelklasse, Akademiker, Wirtschaftler, von denen man erwarten würde, dass sie sich organisieren, warten ab, was mit Arafat passiert. Dabei wollen immer mehr Palästinenser Arafat nicht mehr.INTERVIEW: SUSANNE KNAUL

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