: Altern mit Lance Armstrong
Auf den Augen blind und Daumen hoch für Beloki und Rumsas: Die traurige Geschichte eines jungen Mannes, der für ein Jahr ins südfranzösische Pau ging, um dort livehaftig die Tour de France zu erleben und Jan Ullrich zum Tour-Sieg zu verhelfen
von STEPHAN ZEISIG
Warum geht man für ein Jahr nach Pau? Auf diese Frage fällt mir keine glaubwürdige Antwort ein. Vor vielen hundert Jahren lebte hier mal Henry IV., von dessen Schloss ich aber auch am Ende meines Erasmusaufenthaltes noch immer nicht die Öffnungszeiten weiß. Ausweichmöglichkeiten sind die Stadtbibliothek und Fnac. Aber beides gibt es ja auch in anderen französischen Städten. Überdies darf man sich bei Fnac in Pau CDs jeweils nur 5 Minuten anhören.
Meine Rechtfertigung für die Wahl von Pau war immer die Tour de France gewesen. Die macht nach Paris in keiner Stadt so oft halt wie hier, der letzten Verschnaufpause, bevor es für die Fahrer in die Pyrenäen geht. Das sollte mir zugleich dazu dienen, Jan Ullrich, meinem Lieblingsfahrer, zu seinem zweiten Tour-de-France- Sieg zu verhelfen. Ich hatte mir das alles genau überlegt. Am Anstieg wartend, wollte ich mich, wenn das Peloton vorbeikäme, auf Lance Armstrong stürzen, sein Fahrrad am Gepäckträger packen, es festhalten und ihm dabei solange Witze erzählen, bis er vor lauter Lachen Seitenstechen hätte. Seit Januar fuhr ich darum wöchentlich den Col d’Aubisque und den Tourmalet auf und ab, um die geeignetste Stelle für mein Attentat zu ermitteln. Und ich kaufte mir ein Buch mit den größten Radsportwitzen der 70er-, 80er-, 90er-Jahre und heute, die ich minutiös ins Englische übersetzte.
Doch das Leben machte mir mehrere Striche durch die Rechnung: Erstens unterschätzte ich den Perfektionismus von Lance Armstrong, der, um Gewicht zu sparen, auf einen Gepäckträger verzichtete. Zweitens unterschätzte ich den Umstand, dass ich mich seit Jahren über das Talent der Franzosen für Fremdsprachen mokierte, indem ich ihren Akzent im Englischen nachahmte. Mittlerweile kamen mir alle Sprachen, ob ich es wollte oder nicht, automatisch mit französischem Akzent über die Lippen, weshalb mein Englisch zwar die Franzosen verstanden, aber bestimmt kein amerikanischer Radsportler. Drittens überschätzte ich Jan Ullrichs Knie und dessen Drang, sich zu amüsieren. Seit seiner Tour-Absage stand nun meine ganze Existenz hier in Frage. Zehn Monate meines kurzen Lebens hatte ich hier für ihn geopfert. Zehn Monate, in denen jeder Schritt aus dem Studentenwohnheim mich die größte Überwindung kostete, weil draußen auch nicht mehr los war. Warum in aller Öffentlichkeit langweilen, wenn dich in deinem Zimmer wenigstens keiner sieht? Zehn Monate, in der die nächste Disko zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt lag und die beste so gut war wie das Big Eden in Berlin. Zehn Monate jeden Tag Baguette essen.
Im Grunde verbrachte ich sowieso seit 1997 praktisch mein ganzes Leben vor dem Computer: www.radsport-news.de, www.team-telekom.de und www.janullrich.de haben in mir einen treuen Besucher. 1997–2002. Das macht ein paar Erfolge, aber vor allem 5 Jahre Krankheiten, Verletzungen, Übergewicht und viele zweite Plätze hinter Lance Armstrong. Ich bin noch nie so schnell gealtert. Es geschieht in letzter Zeit immer häufiger, dass man mich für meinen eigenen Vater hält, und das, obwohl ich noch nie betrunken war oder auf Amphetamine positiv getestet wurde. Ich führe mit Sicherheit ein viel vorbildlicheres Sportlerleben als Jan Ullrich.
Ich werde nun nicht extra in die Pyrenäen oder die Alpen fahren, damit die Fahrer an mir vorbeiklettern. Mir ist der Enthusiasmus verloren gegangen. Von mir aus kann Lance Armstrong noch mal gewinnen. Die letzten Jahre hoffte ich für Jan Ullrich immer darauf, dass Armstrong des Dopings überführt wird. Wird er aber wahrscheinlich nie. Diesmal weiß ich nicht mal, für wen ich eigentlich sein soll. Eine seltsame Situation. Mit ein bisschen Abstraktion gewinnt die Tour de France durch Ullrichs Fehlen sogar an Reiz. Nicht weil Bernard Thévenet und Jean Paul Olivier, die Kommentatoren von France 2, dies herbeizureden versuchen: „Also Bernard. Hat denn Lance Armstrong Schwächen? Kann er denn geschlagen werden?“ – „Eigentlich nicht. Aber hoffen wir es mal. Sonst wäre es ja langweilig.“ Sondern weil der zweite Platz wieder offen ist. Beloki vielleicht? Oder dieser Litauer, Rumsas? Man muss folglich nur auf dem Auge, mit dem man für gewöhnlich Lance Armstrong verfolgt, blind sein. Dann wird das Rennen wieder spannend. Die letzten beiden Jahre musste man auch auf dem für Jan Ullrich blind sein. Bloß, mehr als zwei Augen haben leider die wenigstens.
Ich werde mich damit begnügen, mir die Etappen in irgendeiner Bar anzuschauen, wenn ich denn eine finde, in der die Tour übertragen wird. Es zählte zu meinen großen Irrtümern anzunehmen, in Frankreich sei Radsport ein populärer Sport und ich könne somit all die Rennen schauen, die im deutschen Fernsehen nicht übertragen werden. Vielleicht ist Radsport in Frankreich ein populärer Sport. In der Paloiser Kneipenlandschaft bekommt man davon jedenfalls nichts mit. Sobald es irgendein Rugby-Match gibt, wird Rugby gezeigt. Und Rugby gibt es praktisch das ganze Jahr über. Ich erinnere mich noch genau, wie ich während des Giro d’Italia mit zunehmender Verzweiflung alle Bars in Pau abarbeitete, ohne fündig zu werden, weil überall die Vorberichterstattung zum drei Stunden später beginnenden Match Bizanos–Mourenx lief. Ins Deutsche übersetzt enspricht das ungefähr der Bedeutung eine Fußballspiels zwischen dem SV Empor Berlin und der B-Mannschaft von Annaberg Buchholz.
Aber selbst wenn ich Glück hätte: Ich kann dann sagen, ich habe ein Jahr in Pau verbracht, um die Tour de France im Fernsehen zu sehen.
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