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Apokalypse am unteren Rand

Zeitungskrise allüberall: Während „überregionale Qualitätszeitungen“ wie „SZ“ und „FAZ“ sparen müssen, stehen fünf Obdachlosenzeitungen bereits vor dem Aus – dem Rest bricht die Auflage weg. Dabei sind die Magazine meist selbst schuld

von ALEX MENGER

Wir kennen das: Eine haarige Gestalt preist in der U-Bahn mit doppelkorngeölter Stimme die neue Straßenzeitung an. Angesichts versperrter Fluchtwege in einem fahrenden Zug trennen sich einige Gäste von ihrem Kleingeld – die Genugtuung sozial verantwortlichen Handelns gibt es schließlich gratis dazu.

Bislang brachten die Zeitungen sich und ihre Verkäufer mit dieser Form von Direktmarketing einigermaßen über die Runden. Doch jetzt hat das Sterben eingesetzt: argus ist tot. Das Schweriner Magazin war eine der 33 deutschen Obdachlosenzeitungen, im August erscheint das letzte Heft. Zwar ist argus mit einer Auflage von 2.000 Stück nur eine kleine Publikation, doch das Magazin versorgt seine Verkäufer mit dem Nötigsten. Von jedem verkauften Exemplar dürfen sie über die Hälfte des Preises behalten, durch angegliederte Einrichtungen verschafft man ihnen ein Dach über dem Kopf.

Untergang als Symptom

Der Untergang von argus ist symptomatisch für die derzeitige Situation: Im Schweriner Raum machen sich drei Blätter gegenseitig Konkurrenz. Als die Arbeiterwohlfahrt die Zuschüsse für argus kürzte, wurde es eng. Die Redaktion warf den finalen Rettungsanker: Aus den drei Zeitungen sollte eine werden. Der Deal platzte: Ein Magazin machte einen Rückzieher.

Die Schweriner könnten nicht die einzigen Opfer bleiben: Der „Bundesverband soziale Straßenzeitungen“ (BSoS), der 22 Obdachlosenmagazine vertritt, warnte jüngst vor dem Kollaps: Neben argus stünden vier weitere kleine Zeitungen vor dem finanziellen Aus.

Selbst Flaggschiffe wie das Hamburger hinz & kunzt oder das nordrhein-westfälische fiftyfifty verloren in diesem Jahr gut 15 Prozent ihrer Auflage. Reinhard Kellner, der Vorsitzende des BSoS, betreibt seitdem Ursachenforschung. Neben dem Euro und der Anzeigenflaute seien vor allem „die verschiedensten Konstellationen kleiner und großer Träger“ schuld an der Misere. Und nicht zuletzt deren Konkurrenzdenken und mangelnde Zusammenarbeit haben das Debakel in Schwerin verursacht.

Hausgemachte Probleme

Tatsächlich scheinen die Probleme hausgemacht, denn freie Magazine blieben bislang weitgehend verschont. Ohne finanzstarken Träger im Rücken müssen sie wirtschaftlich arbeiten, Einrichtungen werden erst aufgebaut, wenn das nötige Geld vorhanden ist. Mit dem drohenden Niedergang von fünf Zeitungen steht die Apokalypse am unteren Rand der Presse bevor: Den Obdachlosen brechen nicht nur die Einkünfte weg, sie verlieren die Unterstützung der sozialen Einrichtungen eines Magazins.

Verzweifelt forderte Kellner daher auf der Jahrestagung des BSoS 750.000 Euro an Bundesmitteln, um seine Mitglieder über die Runden zu bringen.

Ein Blick nach Großbritannien könnte lehrreich sein: Die 1991 gegründete Big Issue ist mit mittlerweile acht Ablegern und einer Auflage von über einer Million ein weltweit einzigartiges Phänomen.

Ihre Verkäufer werden speziell geschult und streng kontrolliert – wer bettelt, fliegt raus.

Der Unterschied liegt im Konzept: Big Issue macht objektiven Qualitätsjournalismus, ohne die Tränendrüse zu bemühen. Die deutsche Dauerberieselung mit sozialen Hilfeschreien schreckt hingegen mehr ab, anstatt zu sensibilisieren. Dennoch wird das britische Patentrezept hier wohl auch künftig kaum Einzug finden: Laut BSoS-Chef Kellner sind die deutschen Zeitungen von Big Issue wenig angetan – sie sei zu unpersönlich. Der U-Bahn-Zwang geht also weiter. Man hatte sich ja auch daran gewöhnt.

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