Das Schweigen des Valentin

Austausch der Kulturen im Lidicehaus: Jugendliche aus fünf Nationen reden über Erfahrungen mit Drogen und Gewalt in ihren Heimatvierteln und arbeiten Kriegsgeschichte des dritten Reiches auf

Wenn keiner Englisch spricht, hilft FußballMauern sagen mehr als tausend Worte

Eines steht außer Frage: Valentin ist einfach hässlich. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Er ist dicker und größer als jeder andere und geht nun auf die 60 zu. Den Tag muss er aber alleine feiern. Denn keiner in der Gegend will so richtig mit ihm zu tun haben, obwohl jeder in Farge und umzu den dunkelgrauen riesigen U-Bootbunker Valentin aus dem II. Weltkrieg kennt. Heute säumen den betagten Bau kleine Einfamilienhäuschen mit genauso kleinen Gärtchen – der verfallende Valentin überragt sie locker mit seinen sechs Stockwerken Höhe, schweigend.

Stimmen aus fünf Nationen plappern munter durcheinander, 50 Jugendliche samt Betreuern aus Polen, Schweden, Ungarn, England und Deutschland steigen vor dem Bunker aus dem Bus. Das Ziel des Kurztrips beim zehntägigen internationalen Jugendtreff für kulturelle Verständigung ist erreicht. Einige dieser jungen Leute im Alter von 14 bis 20 Jahren sind durch eine Drogenentzugstherapie gegangen, andere befinden sich präventiv hier oder sind einfach nur interessiert an dem Thema „Risks in Society“.

„Ein Teil der Nazi-Verbrechen arbeiten wir mit der Besichtigung auf,“ sagt die junge Kunsttherapeutin Carola Schulz. Bis auf die drei fünzehnjährigen Bremer Mädchen kennen die Besucher aus anderen Ländern den Kolloss aus dem Nationalsozialismus höchstens aus Büchern.

Katrin aus Bremen schaut verliebt zu Kim. Sein schwedischer Freund Markus schwärmt noch von der letzten multikulturellen Disconacht der fünf Dutzend Jugendlichen: „Spaß haben ohne Alkohol? Einige von uns wussten gar nicht, wie das geht.“

Die 15-jährige Toni kommt aus Liverpool: „In meinem Vorort sind Gewalt und Drogen normal. Einige meiner gleichaltrigen Freundinnen sind schon Mutter.“ Dass sie gelernt hat sich zu wehren, zeigt sie, als Judoka Beate aus Bremen sie im Spaß anfällt. Magda kommt aus der 360.000 Einwohner großen Stadt Gdinja in Polen. Dort engagiert sie sich für andere Jugendliche. Der Aufenthalt hier soll ihr helfen, anderen zu helfen. Der Jugendgruppenleiter vom Lidicehaus, Lasse Berger, fügt hinzu: „Wenn einer kein Englisch spricht, dann hilft Fußball, um sich kennenzulernen.“

Das Mahnmal vor dem Kolloss Valentin zeigt die Qualen von tausenden Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus. Auf gekrümmten Menschenleibern ragt das schmale Bauwerk übermannshoch in den blauen Himmel. Plötzlich herrscht Stille, als Lasse Berger auf Englisch eine kleine Rede für die Opfer aus Frankreich, Rußland, Polen beginnt. Der Wind weht noch die letzten englischen, ungarischen und schwedischen Wortfetzen der multinationalen Besucher fort in die Ferne. Richtig still wird es während der Gedenkminute, nur das Klicken von Fotokameras ist zu hören. Dann klingelt ein Handy, zwei Jungs raufen sich und Kaugummiblasen platzen.

Die Gruppe geht in den Bunker hinein. Der 19-jährige Cergo aus Budapest fühlt sich unbehaglich zwischen den kalten, riesigen Wänden aus Stahl und Beton. Wasser rinnt von den Wänden, mal fällt ein Tropfen in den Nacken eines Besuchers und verstärkt so das Frösteln in den grauen U-Boothallen. Unmittelbare Eindrücke bringen mehr als Worte. Aus der Ferne tönt unheimliches Poltern. Es ist lediglich eine lockere Rampe, auf die die Besucher im Vorbeigehen treten. Doch in diesem Moment weiß Cergo das nicht. Die Betreuerin des jungen Ungarn übersetzt: „ Geschichtsbücher können mir den II. Weltkrieg nur schwer vermitteln. Der Bunker zeigt mir einen Teil Leid, wie schmerzlich die Zeit für die Zwangsarbeiter war.“

Schmal wirken die Schultern des kräftigen Cergo, als er durch eine Riesenöffnung aus dem Bunker tritt. Zwischen blauem, rotem und silbernem Stahl von Opel, VW und Suzuki gehen die Besucher über den Parkplatz. Einige lassen betroffen die Köpfe hängen. Der Wachmann brüllt über den Platz, als einige der jungen Leute sich ordnungswidrig unter dem rotweißen Schlagbaum hindurchschlängeln.

Karl Zyskowski