: Helden der Berge
Der aktuelle Radrennreporter-Bericht von der Tour
Jetzt, liebe Radsportfreunde, kommt die Tour in Fahrt. Endlich geht es in die Berge. Beim ersten Anstieg gräbt Leducq das Kriegsbeil aus. Hier wachsen Duboc Flügel. Am Galibier spuckt Ocana Blut. Als Merckx den Kopf dreht, huscht Zufriedenheit über sein Gesicht – weil er keinen Zufriedenen mehr sieht. Nur verzerrte, schweißgebadete Gesichter. Virenque beißt auf die Zähne. Van Impe klettert wie eine Gemse, fährt aber ab wie ein Landbriefträger. Einen van Impe, das schwören die Leute am Straßenrand, hätte der alte Poulidor in Grund und Boden gefahren. Aber Poulidor ist längst nicht mehr der Alte, und Simoni tritt die Rampen, als schleppte er Steine.
Defekt beim Anstieg
Der Tourmalet wird zum Schicksalsberg für Lemond. Hinaults Drama beginnt beim Aufstieg zum Mont Ventoux. Ein halb ohnmächtiger Pélissier muss abreißen lassen. Delgado hat schlechte Beine, Zülle ist schon mit genageltem Schlüsselbein zur Tour gekommen. Altig, die rollende Apotheke, sehnt sich nach der Ebene wie die Forelle nach den klaren Bächen. Und Bobet liegt in Lauerstellung, nun da sich das Feld wie ein aufgeblasener Lindwurm durch die engen Gassen von Briançon windet. Schon beim ersten Antritt des göttlichen Coppi platzt das Verfolgerfeld wie eine warme Leberwurst, und Chiapucci beißt sich wie ein wütender Spitz an den Hinterrädern der Favoriten fest. Nur Pantani hat sich wieder mal nicht gezeigt.
Am Solour beträgt sein Vorsprung zwei Minuten auf das Trio Kuiper/Thevenet/Zoetemelk. Armstrong lässt sie einfach stehen wie Anfänger. Galera, der spanische Bergfloh, scheint den Aubisque hinaufzufliegen. Aber Erster auf dem Gipfel ist wieder einmal Bahamontes. Doch der Adler von Toledo ist kein Glückskind. Erst als zehn seiner Konkurrenten an ihm vorbeiradeln, scheint er sich zu entsinnen, warum er eigentlich auf diesen schönen Berg gefahren ist. Koblet ist längst ausgeschieden, und Charlie Gaul, der kompakte Mann aus Adliswil, der in der eisigen Kälte des Gebirges schon mal einen Reifen mit den Zähnen von den Felgen reißt, wenn die klammen Finger versagen, Charlie Gaul, der Selbstzerfleischer, sitzt mit einem Defekt am Straßenrand und weint.
Casatelli hat erst am letzten Stich hinauf nach Alpe d’Huez den Anschluss verloren. Aber noch ist nichts verloren. Denn nun haben sich 22 Männer aus dem Schutz des Waldes herausgetreten und das scheußliche Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Folgen sind katastrophal. Junkermann packt der Hungerast, Jannsen bricht ein und das gelbe Trikot hängt an einem seidenen Faden. Dabei hat die Tour der Leiden noch gar nicht richtig begonnen.
Denn, liebe Radsportfreunde, jetzt überstürzen sich hier die Ereignisse. Jetzt rasen sie auf der anderen Seite hinab, als ob sie den Berg, den sie so mühsam erklommen haben, fliehen würden wie ein scheußliches Ungetüm. Jetzt preschen sie Kopf an Kopf ins Tal der Etsch und gleich wieder hinauf nach Racagort. Induráin ist also doch keine Maschine. Rivière ist schwer gestürzt, der schwer angeschlagenen Merckx gibt das Rennen auf, und dass Hinault genau hier die Rechnung bezahlt, ist eine der Folgen des Kopfsteinplasters.
Abfahrt ohne Atem
Damit ist die Tour praktisch entschieden. Sechs Tage vor den Champs-Elysée ist das der Sieg. An seinem fünften Tour-Erfog gibt es keine Zweifel. Hier hat er die Tour endgültig eingefahren. Niemand zweifelt daran, dass heute die Herrschaft des Kannibalen endet. Aber so weit sind wir noch nicht. Thevenet hat drei Minuten auf Fignon verloren. Bartoli hat längst resigniert. Der kranke Anquetil tut dem Champion nichts. Bei Polletier war es Doping. Doping, liebe Radsportfreunde, Doping ist ein hässliches Wort. Aber à la bonne heure, solche Abstände hat man bei der Tour schon lange nicht mehr gesehen. MICHAEL QUASTHOFF
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