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FRANKREICH: SCHÄRFERE STRAFEN GEGEN JUGENDLICHEDas amerikanische Modell

Frankreich hat tatsächlich ein Problem mit steigender Kriminalität. Die Statistiken, die übrigens noch die rot-rosa-grüne Regierung vorlegte, sprechen eine deutliche Sprache. Sie zeigen unter anderem, dass die Straffälligkeit bei Minderjährigen zunimmt – vom Handy-Raub über Sexualverbrechen bis hin zu anderen Gewalttaten.

Die Unterschiede in der Einschätzung beginnen, wenn es an die Ursachen und den Umgang mit diesem Phänomen geht. Die französische Linke – und mit ihr ein Großteil der Experten, die straffällig gewordene Jugendliche beruflich betreuen – ist der Ansicht, dass Gefängnisse und andere geschlossene Anstalten nicht dazu beitragen, straffällig gewordene Jugendliche zu resozialisieren, sondern dass sie im Gegenteil Schulen des Verbrechens sind. Statt mehr geschlossener Anstalten verlangt die Linke mehr und besser ausgebildetes und besser bezahltes Personal – von Erziehern über Sozialarbeiter bis hin zu Jugendrichtern. Die französische Rechte hingegen vertritt die Ansicht, dass die Drohung mit Gefängnissen eine abschreckende – also erzieherische – Wirkung haben wird.

Hinter diesen Positionen, die sich Linke und Rechte in diesen Tagen im französischen Parlament um die Ohren schlagen, stecken zwei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle. Ein soziales Modell, in dem der Staat gleiche Rechte für alle Bürger garantiert, auch wenn das im Zweifelsfall teuer ist – und ein liberales, in dem der Staat immer mehr wirtschaftliche und soziale Aufgaben allein der „privaten Initiative“ überlässt und sich auf die verbleibenden Regelungen konzentriert – darunter die Repression.

Dieses letzte Modell hat in Frankreich – aber auch in immer mehr anderen europäischen Ländern – für die kommenden Jahre die Mehrheit. Es weist in eine Richtung, die wir aus den USA kennen. Dort sind öffentliche Dienste ein Fremdwort, während immer mehr im Gefängnis sitzen. Dass die Kriminalitätsrate dadurch – wie übrigens auch durch die Todesstrafe – keineswegs gesunken ist, versteht sich von selbst.

Die Justizreform in Frankreich und die Kriminalisierung von Minderjährigen, die daraus folgen wird, ist eine rasant schnelle Umsetzung eines Versprechens, mit dem Jacques Chirac den Wahlkampf in diesem Frühsommer bestimmt hat. Sie ist zugleich eine Amerikanisierung der französischen Politik. Und sie zeigt, wie schwach das soziale Argument in den vergangenen Wochen geworden ist. Bei der Debatte über die Jugendkriminalität, deren Großteil aus den sozialen Gettos der französischen Städte kommt, spielte die soziale Unsicherheit nur noch eine marginale Rolle.

DOROTHEA HAHN

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