: Spicing the city
Intertaz weltweit: Zuwanderung und Kulturkontakt sind globale Themen. Neue Nationen, weltweite Arbeitsmigration und Flüchtlingsströme schaffen immer neue Konstellationen gewollter und ungewollter Nachbarschaft. „Wie funktioniert das Zusammenleben der Kulturen anderswo auf der Welt?“, fragt daher unsere Serie. Nach dem zentralasiatischen Ferghanatal, Chicago, Brüssel und Japan heute Miami, wo über die Hälfte der Bevölkerung Hispanics sind, wo die Latinokultur längst das Leben auch der verbliebenen Anglos beherrscht.
von GERO GÜNTHER
Es ist zehn Uhr abends, und immer noch schwülheiß. Zigarrenrauch und der Geruch von starkem Kaffee liegen in der Luft. Immer mehr Familien und Paare kommen aus dem mit Spiegeln und Stuck verzierten Lokal auf den Parkplatz. Aus den frisch polierten Wagen der jungen Männer dringt, fast höflich leise, spanischer HipHop. Alte, sorgfältig geschminkte Damen schauen nach dem Kabarettabend im „Teatro de Bellas Artes“ noch auf einen Schwatz vorbei. „Buenos tardes“, grüßen sie die Nachbarin und schwärmen von Federboas und glamourösen Rumbatänzern.
„Versailles“ steht in verschnörkelten Rokokolettern auf der Leuchtreklame an der Calle Ocho, der Hauptschlagader des Kubaner- und Nicaraguanerviertels. Das kitschige Restaurant mit dem aristokratischen Namen ist ein beliebter Treffpunkt in Little Havana. In der hauseigenen Bäckerei herrscht noch reger Betrieb. Außer Kuchen, Karamellspeisen und Rauchwaren kann man hier auch patriotische Fähnchen und das Telefonbuch der kubanischen Hauptstadt kaufen. Das Telefonbuch aus dem Jahr 1958, versteht sich. Tausende der dort Verzeichneten sind nach der Revolution geflohen und stehen inzwischen im Telephone Directory von Greater Miami. Mindestens 600.000 Kubaner leben in Greater Miami. 600.000 Menschen, die den Süden Floridas zu einer Bastion des militanten Antikommunismus und zu einer der größten Nochraucherzonen der Vereinigten Staaten machen.
„Fidel Castro ist ein Motherfucker“, sagt ein adretter Rentner, der vor dem „Versailles“ gemütlich schmauchend auf einem Zeitungskasten sitzt. Einfach so, aus heiterem Himmel. „Wir hassen dieses Monster“, pflichtet ihm sein Freund bei. Der Dritte im Bunde sagt nichts. Ein moderater Kubaner? Nein, der Mann ist bloß schwerhörig.
Was bei Nacht noch wie ein konspiratives Gegenkuba wirkte, ist bei Tageslicht und vom Auto aus besehen eine ganz normale US-amerikanische Main Street mit Toyota-Händlern, Supermärkten und Fastfoodläden. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, warum die Eights Street als Zentrum der kubanischen Kultur Miamis gilt und deshalb Calle Ocho genannt wird. In den Möbelläden gibt es Louis-quatorze-Betten aus Vollplastik, in den Blumenläden Yoruba-Figuren und Liebespülverchen, und bei „Dunkin’ Donuts“ guavengefüllte Krapfen.
Neben kubanischen Versicherungsagenturen, politischem Fanatismus und afrokubanischen Santeria-Kulten gedeihen kurioserweise auch die schönen Künste in den Straßen von Little Havana. Mehr als 50 Künstler haben ihre Ateliers laut Ronald und Nelson Curras in die Gegend um die Calle Ocho verlegt. Die 60-jährigen Curras-Zwillinge machen – wie so viele ihrer Latino-Kollegen – in Keramik. Ihre bunten Fabelwesen, Blumen und masturbierenden Mayas zieren Teller, Theken und Swimmingpools im gesamten karibischen Raum. Ganze Hotels haben die beiden Brüder schon ausgestattet. Warum sie Kuba verlassen haben, obwohl ihre Kunst keinesfalls politisch ist? „Wir haben Kuba nie verlassen“, weichen die Brüder aus, „das hier ist kubanischer als Kuba selbst.“
Längst ist die Latino-Kultur weit über die alteingesessenen Kubaner-Exklaven Little Havana und Hialeah hinausgewachsen, längst kann man süßen Café cubano überall in Miami trinken, und Latin Music boomt sowieso in der ganzen Stadt. „Früher war Salsa unter den jungen Leuten out, sogar bei den Latinos“, sagt eine junge Dominikanerin, die sich in der Tanzschule Salsa Lovers Schrittfolgen wie „Para el medico“ oder „Exhibela“ beibringen lässt. „Heute wollen alle Salsa tanzen können.“ Selbst die noch fehlerhaften Schritte der Anfänger lassen das Feuer erahnen, das diese Musik jedes Wochenende in den Latino-Clubs entfacht.
Auch die acht Musiker auf der Bühne des Maurice-Gusman-Auditoriums scheinen jede Menge Temperament und Spaß zu haben. Unter einem honiggelben Wandgemälde finden gerade die Proben für das „Danz-n Cubano“-Konzert statt. Danz’n ist die Musik der weißen Kubaner, eine afrikanisierte Version europäischer Tänze, gespielt von so genannten Orquestas Típicas. Immer wieder springt einer der Violinisten auf, um einen Rhythmus vorzuklatschen, man singt sich gegenseitig Melodievarianten vor – die schwarze Starpianistin Zenaida Manfugés bricht alle paar Minuten in lautes Gelächter aus. Zwischendrin steht die Sekretärin des Dekans in der Tür, um ihre vom langen Sitzen verkrampften Beine zu schwingen, und der Flötist Nestor Torres tänzelt wie ein Matador über die Bühne. „Es ist schon etwas verwunderlich, dass sich momentan so viele Leute in der ganzen Welt für kubanische Musik begeistern“, sagt der mit einer Kubanerin verheiratete Puerto-Ricaner. „Aber natürlich finde ich das großartig, und ich glaube auch weiterhin, dass Musik ein gutes Mittel ist, um die Schranken zwischen den Menschen zu überwinden.“
Torres, der bereits für Tito Puente, Herbie Hancock, Marc Anthony, Ray Barreto und Gloria Estefan flötete, ist eine Schlüsselfigur im kulturellen Leben Miamis. Vom Bürgermeister bis zum Chefkoch kennt jeder den Musiker, der im Jahr 2000 für einen Grammy nominiert war. Mit seinem freundlichen Lächeln und smarten Auftreten ist der weltläufige Torres ein perfekter Vertreter des neuen Latino-Selbstbewusstseins. Puerto-Ricaner, Kubaner, Nicaraguaner, Kolumbianer, Venezolaner und Guamalteken haben allen Grund, selbstbewusst zu sein, immerhin machen sie über die Hälfte der Bevölkerung von Greater Miami aus. Tendenz steigend.
Schon heute funktioniert Südflorida weitgehend zweisprachig. „Spicing the city“ nennt der amerikanische Theoretiker Mike Davis die landesweite Tendenz einer „weitreichenden Lateinamerikanisierung“ der großen und mittleren Städte in den USA. Kein Wunder, schließlich wächst der Bevölkerungsanteil mit spanischen Nachnamen fünfmal so schnell wie die Nochmajorität der Anglos. Besonders deutlich spürbar ist der von Davis beobachtete „magische Urbanismus“ in den Sümpfen Südfloridas. Wer nach Miami reist, kann allerorten beobachten, wie nicht nur Salsa und Merengue, sondern auch südamerikanisches Kapital, kubanische Geschäftstüchtigkeit, mittelamerikanische Drogen und katholisch getaufte Mädchen der ehemaligen Rentnerenklave neues Leben einhauchen. Die noch vor wenigen Jahrzehnten als besonders intolerant, rassistisch und homophob geltende Stadt, in der Schwule um ihr Leben bangen mussten und Schwarze, die das Getto verlassen wollten, vom Ku-Klux-Klan aus ihren neuen Wohnungen gebombt wurden, hatte die transkulturelle Mund-zu-Mund-Beatmung bitter nötig.
„Die Süd- und Mittelamerikaner haben das Straßenleben revitalisiert, die Wirtschaft angekurbelt und jede Menge Arbeitsplätze geschaffen“, meint der peruanische Geschäftsmann Roberto Datorre. Datorre führt ein peruanisches Restaurant in South Beach. Im Laden nebenan kann man Inka-Cola, Fußballtrikots und Wandteppiche aus Machu Picchu kaufen. Cornershops wie der von Roberto Datorre gibt es überall in Miami – kein Latino braucht hier auf seine Kochbananen, Chorizowürste, Heiligenbilder oder Zeitschriften zu verzichten. Die Lateinamerikanisierung macht selbst vor den einstigen Hochburgen der Anglos nicht halt. „Der Stadtteil Miami Beach wird immer stärker von Latinos kontrolliert“, erklärt Herb Sosa, ein junger Designer und Freund Datorres. „Mehr und mehr Restaurants und Geschäfte gehören inzwischen reichen Kubanern und Kolumbianern.“
Auch der berühmte Strand ist längst tropikalisiert und verhält sich zu einem prüden Yankee-Beach wie ein G-String zum braven Badeanzug. Statt Rentnern gibt es hier nun Beachfußball, Großfamilien und eine Bikinilandschaft von geradezu brasilianischen Ausmaßen. Und natürlich gehören auch Szenen, wie sie der gemeine Gringo nur aus Videos von Miamis Idolen Gloria Estefan, Enrique Iglesias oder Ricky Martin kennt, zur Latino-Kultur der Stadt: Das Café Nostalgia ist voll, so voll, dass die Clubgänger genug Körperkontakt haben, um sich an den Implantaten ihrer Nachbarinnen zu reiben. An den Bartheken schmiegen sich rückenfreie Latinas an ihre Sugar-Daddys. Rolex-Uhren und aufgeknöpfte Versace-Hemden lassen leicht erkennen, an wen es sich zu schmiegen lohnt. Die Bodyguards des dominikanischen Baseballstars Sammy Sosa bezahlen die Champagner-Magnumflaschen mit ganzen Bündeln von 20-Dollar-Noten. Eine große Schwarze im kleinen Schwarzen steigt hüftenschwingend auf die Tische. Bleichgesichtige Anglos lassen ihre Hüften kreisen. Harter Mereng-House hält die Menge in ständiger Bewegung. Spätestens hier – im Nachtleben Miamis – wird klar, was Mike Davis mit „Spicing the city“ gemeint haben könnte. Die von ihm beschriebene Restrukturierung der von Verödung bedrohten amerikanischen Innenstädte ist ja nicht nur ein demografisches, sondern auch ein popkulturelles Phänomen.
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