: „Sie wollen eine neue DDR“
Interview ROBIN ALEXANDER
taz: Frau Kuczynski, in Ihrem Buch führen Sie Tischgespräche mit PDS-Wählern. Das Lokal und die Speisen charakterisieren Ihre Gesprächspartner. Wir sitzen jetzt im Biergarten des Berliner Restaurants Ganymed. Sagt dieses Lokal etwas über Rita Kuczynski?
Rita Kuczynski: Mein früherer Schwiegervater, Jürgen Kuczynski, hat in dieses Lokal manchmal die ganze Familie zum Essen eingeladen. Das war immer sehr aufregend, auch weil es im Ganymed wirklich gutes Essen gab – zumal für DDR-Verhältnisse. Seit ich in die Kuczynski-Familie eingeheiratet hatte, erlebte ich die DDR aus einer priviligierten Situation.
Wie haben Ihre Interviewpartner auf Ihr Anliegen reagiert, sich mit Ihnen über die PDS zu unterhalten?
Sehr offen, mit einer Einschränkung. Die Eltern von Erstwählern rieten ihren Kindern ab, mit mir zu reden. Eine Mutter dachte, käme heraus, dass ihr Kind PDS wählt, würde es aus der Lehre bei Siemens fliegen. Da schwingt noch die DDR-Zeit nach: die Angst, seine Meinung zu sagen. Die Kinder waren dann viel unbefangener.
Wären Sie selbst bereit gewesen, ein solches Interview zu geben?
Es wäre mir schwer gefallen. Ich kann nicht so aus mir heraus erzählen, das Herz einfach so auf den Tisch legen. Die DDR war eine sehr prägende, paranoide Situation – auch für mich.
Von Ihren Gesprächspartnern sind Sie oft zuerst gefragt worden, ob Sie selbst auch in der DDR gelebt haben.
Ja, das war wichtig für die Interviewten. In Deutschland gibt es zwei Diskurse: einen Diskurs Ost und einen Diskurs West. Die Bereitschaft der Ostler, ihre Erfahrungen für den Diskurs West darzulegen, ist nach zwölf Jahren Missverständnissen auf dem Nullpunkt.
Ihr Buch erschließt den Ostdiskurs für den Westen. Sind Sie eine Übersetzerin?
Wahrscheinlich bin ich dafür prädestiniert. Ich war 28 Jahre hinter der Mauer, ohne mich wirklich einzuleben. Meine Verbindungen zu Westberliner Verwandten habe ich nie abgebrochen. Und auch die großbürgerliche Kuczynski-Familie hatte eigentlich immer Besuch von westlichen Intellektuellen. Ich war nie heimisch, weder im Ost- noch im Westdiskurs. Aber ich habe gelernt, mit beiden Diskursen umzugehen.
Ihre Gesprächspartner berichten sehr persönlich über ihr Leben.
Ja, dabei kam etwas heraus, was mich in dieser Deutlichkeit erschreckt hat: Die PDS-Wähler übernehmen von sich aus keine Verantwortung für ihre Lebenssituation. Sie sagen nicht: Ich muss etwas tun. Sie sagen: Wir. Die Partei muss. Der Staat muss. Die Westler müssen. Die Identifikation mit der PDS ist, scheint mir, ein Schritt heraus aus der Eigenverantwortung. Die PDS ist ein Stück Heimat, in das man sich zurückziehen kann.
Welcher Menschentyp hat sich denn heimisch gefühlt in der DDR?
Schon die Mehrheit ihrer Bürger. Die Identifikation hörte in der Regel erst auf, wenn man mit dem System in Konflikt kam – politisch oder beruflich oder sozial, weil man ein anormales Kind hatte. Dann stieß man schnell an die Grenzen der sozialistischen Menschengemeinschaft. Aber sonst? In der DDR habe ich gelernt: Die Sehnsucht der Menschen nach Harmonie mit den bestehenden Verhältnissen ist unendlich groß.
Warum identifizieren sich so viele Ostdeutsche dann aber nicht mit den heute bestehenden Verhältnissen – mit dem vereinigten Land?
Das liegt an der Art und Weise der Einigung. Von den Ostlern wird übersehen, dass die Westdeutschen die DDR eigentlich gar nicht haben wollen. Die von Franz Josef Strauß ausgehandelten Kredite dienten dazu, die Ostdeutschen aus den Auffanglagern fern zu halten. Die BRD hat eine Menge Geld ausgegeben, um die DDR als Staat zu erhalten.
Und das wissen die Ostler nicht?
Es wird verdrängt. Man möchte nicht reflektieren, dass die DDR einfach zusammengebrochen ist. Lieber erzählt man sich, die Westdeutschen seien eingefallen und hätten die Betriebe plattgemacht und die Häuser gekauft. Ursache und Wirkung werden oft verwechselt. Die Betriebe sind ja nicht wegen der Treuhandanstalt zusammengebrochen.
Wollen Sie sagen, dass die Ostidentität erst im Vereinigungsprozess entstanden ist?
Mit der Verunsicherung durch die Veränderungen nach 1989 entstand ein Bedürfnis nach Abgrenzung. Dafür bot sich der Westen an. Mit dieser Abgrenzung gegenüber dem Westen geht eine Kollektivisierung der Erfahrungen und der Gefühle einher.
Woran erinnern sich Ihre Interviewpartner denn, wenn sie an die DDR denken?
Die DDR hat sich in den Köpfen der Individuen verkehrt. Besonders junge Leute greifen aus der Geschichte nur auf, was sie gebrauchen können, was ihnen nützlich ist. Das geht so weit, dass sie historische Fakten bewusst ignorieren.
Keine totale Verdrängung wie nach dem Dritten Reich, sondern eine partielle Verdrängung?
Ja, ein sehr pragmatischer Ansatz, der es den Älteren ermöglicht, die Vergangenheit schönzureden, und den Jüngeren erlaubt, heute in der PDS Politik zu machen.
Wer macht denn heute Politik in der PDS?
Im Wesentlichen die Personen, über die Hans Modrow 1990 sagte: „Wir müssen die Kader aus der zweiten und dritten Reihe mobilisieren, denn sie sind bereit zu kämpfen.“ So kam Gregor Gysi an die Spitze.
Gysi war schon in der DDR nicht irgendwer.
Die Familie Gysi gehörte zur roten Aristokratie: ein Kind der antifaschistischen Nomenklatura. Ein Heldenkind, das in dem Bewusstsein aufwuchs, etwas Besonderes zu sein, selbst auch wieder zum Helden werden zu müssen. Diese Generation ist mit Gysi an die Spitze der Partei gekommen.
Teilt Gysi die Ostidentität seiner Wähler?
Mit einer gewissen ironischen Distanz, hoffe ich. Die hatten die Kinder aus alten bürgerlichen, jüdischen Familien – wie die Gysis, aber auch die Kuczynskis – übrigens schon in der DDR.
Der PDS-Vorsitzende von Berlin, Stefan Liebich, ist noch keine 30 Jahre alt.
Die PDS braucht diese jungen Leute für die Runderneuerung der Partei. Deshalb trainiert sie ihren Nachwuchs so gut. Die PDS ist – anders als ihre Konkurrentinnen – noch immer eine disziplinierte Kaderpartei.
Speist sich die Identität aus einer untergegangenen Heimat, die in den Köpfen immer wieder neu entsteht?
Eine gemeinsame Identität kann ja auch Kraft geben, wenn man sich aus ihr heraus mit der Realität auseinander setzt und nicht aus ihr flieht. Die Niederlage zwingt zur Modernisierung. Hat man die hinter sich, hat man plötzlich einen Vorsprung. Diese Entwicklung müssen die Ostdeutschen noch machen – die PDS steht ihnen dabei im Weg, weil sie auf alte soziale DDR-Milieus setzt.
Gäbe es die Möglichkeit zu wählen: im vereinigten Deutschland oder einer noch intakten DDR zu leben – wofür würden sich Ihre Gesprächspartner entscheiden?
Niemand will wieder in der alten DDR leben. Sie wollen eine neue DDR – eine DDR mit den Vorzügen der Bundesrepublik: Reisen, Devisen, Freiheit. Meine Gespräche offenbaren mitunter bei den PDS-Wählern ein großes Defizit an politischer Reife: Die Leute wissen noch immer nicht, was Freiheit ist. Freiheit heißt nämlich, seine Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Davor besteht eine wahnsinnige Angst.
Wirtschaftlich geht es Ihren Gesprächspartnern überwiegend gut.
Ja, ihnen geht es gut. Aber sie schauen nach Westen, wo es der Mehrheit immer noch besser geht. Der Maßstab des Ostlers ist nicht der Osten, sondern immer noch der Westen.
Warum ist das Ausbleiben eines wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten Ursache für den Erfolg der PDS?
Durch mangelnde wirtschaftliche Entwicklung fehlt Veränderung in der Gesellschaft. Die alten sozialen Milieus der DDR sind teilweise noch intakt. Wenn ich etwa in die Lausitz fahre, komme ich mir vor wie in einer Zeitmaschine. Da wird nicht nur immer noch Würzfleisch serviert – da scheint das Leben konserviert. Diese Milieus tragen die PDS, und die PDS organisiert diese Milieus.
In Berlin regiert jetzt die PDS. Kann Gysi als Repräsentant des neuen Systems die alte DDR-Identität bedienen?
Er wird Schwierigkeiten bekommen. Bei Gysi kann man schon jetzt Veränderungen beobachten. Seit er Senator ist, redet er sachlicher. Um es als Musikerin zu beschreiben: Gysi spricht in einem ganz anderen Timbre. Der Heldenton ist raus.
Von unserem Platz im Ganymed blicken wir auf den Tränenpalast. Hätten wir besser dort unser Gespräch führen sollen?
Dieser Ort steht für meine gespaltene Beziehung zur DDR. Der Tränenpalast war ja Grenzübergang nach Westberlin. Dort habe ich immer wieder meine Großmutter verabschieden müssen, wenn sie zu Besuch in Ostberlin war. Noch heute verdränge ich die Emotionen, die damit zusammenhängen. Der Tränenpalast steht für mich für die befestigte Grenze, die mein Leben brutal verändert hat, weil ich plötzlich in der DDR festsaß. Ich habe dort ja auch lange gelebt, mich als Hegel-Expertin und in der Kuczynski-Familie eingerichtet. Das alles endete mit dem Mauerfall. Meine Beziehung zu meinem Exmann ist am Mauerfall kaputtgegangen: Ich freute mich, für ihn brach die Welt zusammen.
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