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Außer Kontrolle

Der geplante Krieg der USA gegen den Irak ist reine Willkür. Mit Selbstverteidigung hat er nichts zu tun – doch Europa übt sich im Wegsehen oder macht kleinlaute Vorschläge

Das Duell Bush gegen Hussein hat sichverselbstständigt. Jedes Einlenken gilt als Kapitulation.

Saddam Hussein aus seinem Palast zu bomben wie die Desperados der al-Qaida aus ihren Verstecken in den afghanischen Bergen ist in Washington mehr als eine erwogene Option. Der Entschluss scheint gefasst, nur der Zeitpunkt noch offen. Die logistischen Vorbereitungen laufen, die diplomatischen Sondierungen halten an. Um das Thema über die Sommerpause zu bringen, legt die Administration alle paar Tage militante Rhetorik nach.

Warum gerade Bagdad als nächstes Ziel in Amerikas Antiterrorkrieg ausersehen ist, ist wenig einleuchtend. Im Irak sitzen die Islamisten nicht an den Hebeln der Macht, sondern im Gefängnis oder im Exil. Fanatische Gotteskrieger hält das Regime auf Distanz. Die angeblichen Verbindungen zwischen den Attentätern des 11. September und dem irakischen Geheimdienst wurden von Washington selbst dementiert.

Trotz alldem: In seiner Kongressbotschaft Anfang des Jahres schlug Bush den Bogen von internationalen Terrornetzen zu Staaten, die nach Massenvernichtungswaffen streben. Sie stünden sich an Gefährlichkeit in nichts nach, gegen beide sei mit Entschlossenheit vorzugehen. Seither vergeht kaum ein Tag ohne offene oder unterschwellige Angriffsdrohung an die Adresse Bagdads.

Der Streitanlass liegt fast vier Jahre zurück. Bis Dezember 1998 überwachte eine Kontrollkommission der UNO vor Ort, ob der Irak den Abrüstungspflichten nachkam, die ihm nach dem Golfkrieg 1991 auferlegt worden waren. Dann eskalierte der Konflikt. Vier Tage lang wurde das Land von amerikanischen und britischen Kampfbombern beschossen. Ihre Waffeninspekteure hatte die UNO rechtzeitig abgezogen. Bagdad ließ sie anschließend nicht wieder einreisen. Seitdem gibt es keine internationale Rüstungskontrollpräsenz mehr im Irak.

Wenn die US-Regierung von der irakischen Führung verlangt, die Zusammenarbeit mit der UNO wiederaufzunehmen und die Inspektionsteams weiter arbeiten zu lassen, so befindet sie sich im Recht. Zwar haben die Kontrollen in den letzten Jahren ihrer Tätigkeit keine gravierenden Verstöße des Irak gegen eingegangene Verpflichtungen ergeben. Doch ebenso wenig stellten sie die vollständige Erfüllung aller Auflagen fest.

Allerdings hat Saddam Hussein auch nicht rundweg abgelehnt, wieder internationale Beobachter ins Land zu lassen. Gerade ging in Wien die letzte von drei Verhandlungsrunden zu Ende, in denen UN-Generalsekretär Annan und der irakische Außenminister Sabri die Frage besprochen haben. Aber Annans Spielraum ist begrenzt. Über mehr als ein neues Überwachungssystem lässt ihn Washington nicht reden. Bagdad wiederum setzt seine Klage über das umfassende Handels- und Finanzembargo dagegen, dem das Land seit zwölf Jahren unterliegt.

Für den Verfall der irakischen Wirtschaft und die Verelendung der Bevölkerung machen viele internationale Organisationen die Sanktionen verantwortlich. In dem einst wohlhabenden Ölstaat ist das Einkommensniveau unter das der meisten schwarzafrikanischen Länder gesunken. Unicef und FAO verweisen auf eine alarmierende Kindersterblichkeit infolge von Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung.

Saddam Hussein, der nicht zu den Notleidenden zählen dürfte, nutzt die Inspektionsverweigerung dazu, um das Thema der Sanktionen auf die internationale Tagesordnung zu setzen. Wann die Lockerung oder Aufhebung der ökonomischen Abschnürung in Aussicht steht, würde auch jede andere irakische Regierung wissen wollen. Solange die Entscheidung jedoch von einem einzigen Mitglied des Sicherheitsrats abhängt, wird der aus Sicht Bagdads propagandistisch erwünschte Eindruck aufrechterhalten: Der Irak bleibt stranguliert, egal was er tut oder lässt.

Beendet sehen möchte die Regierung in Bagdad auch die zu Routine gewordenen Luftangriffe auf militärische Einrichtungen des Landes. Kaum jemand erinnert sich noch an den Anlass, aus dem die Gewohnheit entstand: die einseitige Ausrufung von Flugverbotszonen im Norden und Süden des Irak zum Schutz der kurdischen und schiitischen Bevölkerungsminderheiten. Nach amtlicher Lesart dienen die Patrouillenflüge der Überwachung des Flugverbots und die Luftschläge der Ausschaltung der irakischen Flugabwehr. Sie gehen aber oft genug darüber hinaus. Allein 1999, als der Kosovokrieg die öffentliche Aufmerksamkeit ablenkte, trafen über 1.000 Raketen mehr als 300 Ziele innerhalb und außerhalb der Schutzzonen. Keine rechtliche Legitimierung deckt das eigenmächtige Vorgehen, kein politischer Protest behindert es.

Washington und Bagdad tragen an der Geschichte ihrer zerrütteten Beziehung. Die Beschwerdeliste ist auf beiden Seiten lang. Wenn unsinniges Rüsten schon den Schurkenstaat ausmacht, müssten viele Länder am Pranger stehen. Die USA selbst halten Nuklearwaffen aller Kaliber bereit. Sie verfügen über Trägermittel sämtlicher Reichweiten. Sie lassen durchblicken, gegen wen sich ihre Zielplanung richtet, und sie beharren auf der Doktrin des atomaren Ersteinsatzes. Was dagegen tut der Irak? Er steht im Verdacht, Massenvernichtungswaffen zu besitzen oder herstellen oder erwerben zu können – mehr nicht. Ein Verdacht, den er mit mindestens zwei Dutzend weiteren Staaten auf der Erde teilt. Nichts könnte den Militärschlag des Riesen gegen den Zwerg zum Verteidigungskrieg stilisieren.

Derweil macht Europa kleinlaute Vorschläge wie den, Saddam Hussein mit diplomatischen Mitteln die Wiederzulassung von Inspektoren abzuringen. Dabei hat Bagdad deutlich gemacht, dass es über Inspektionen allein im Irak nicht weiter verhandelt. Ursprünglich war vorgesehen, Militärkontrollen in der ganzen Regionen durchzuführen, etwa auch in Jordanien und Saudi-Arabien. Doch dieser zweite Schritt ist nie gemacht worden.

Der Irak steht imVerdacht, Massen-vernichtungswaffen besitzen zu können. Mehr nicht.

Solche Feinheiten spielen in dem Konflikt längst keine Rolle mehr: Längst hat sich das Duell Bush gegen Hussein verselbstständigt. Jedes Einlenken gilt als Kapitulation. Unglücklicherweise stehen beide Präsidenten, Demokrat und Diktator, an der Spitze politischer Systeme von nur geringer Fähigkeit, Einbußen an Prestige hinzunehmen, um ein Blutbad abzuwenden.

Der Griff zu den Waffen ist zulässig zur Abwehr einer bewaffneten Aggression. Anders als im Sommer 1990 begeht der Irak derzeit keine militärische Aggression. Er wäre, mit Aussicht auf Erfolg, dazu nicht einmal imstande. Der Griff zu den Waffen kann sich weder auf das Völkerrecht noch auf ein Votum der Staatengemeinschaft berufen. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der die Staatengemeinschaft repräsentiert, fände sich dafür keine Mehrheit. Der Griff zu den Waffen wäre ein Akt der Willkür. Jede Regierung, die daran mitwirkt, sei es durch militärischen Beistand, durch logistische Hilfe oder durch politische Unterstützung, übernimmt Mitverantwortung. Für die Folgen, für die Opfer, für die Toten.

REINHARD MUTZ

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